Lenin und die fehlerhafte Tafel

  • Hans-Dieter Hentschel
„Wenn die Tafel von der Enteignung der ,Kulaken' spricht, reproduziert sie alte sowjetische Feindbilder“, schreibt Jörg Ganzenmüller in einem Gastbeitrag für unser Magazin. Und das ist nicht der einzige Einwand des Historikers.
05.11.2014
Ein Gastbeitrag von Jörg Ganzenmüller

Die Lenin-Statue in Schwerin ist ein Überrest der späten DDR. Mit ihrer Errichtung im Jahr 1985 sollte weniger dem Wirken Lenins in Sowjetrussland als der Bodenreform, die zwischen 1945 und 1948 in der SBZ durchgeführt wurde, gedacht werden. Indem man sich dabei der Formensprache des Leninkults bediente, stellte man die Bodenreform allerdings in eine Tradition zu Lenins Dekret über Grund und Boden aus dem Oktober 1917. Das Lenindenkmal beschwört also eine Kontinuitätslinie von 1917 über 1945 bis 1985.

Es gibt gute Argumente dafür, sämtliche Machtsymbole der SED-Diktatur nach dem demokratischen Umbruch von 1989 zu schleifen. Die Tilgung jeglicher Überreste der DDR aus dem öffentlichen Raum bringt allerdings die vielfältigen historischen Prägungen Ostdeutschlands durch die 40-jährige SED-Diktatur nicht einfach zum Verschwinden. Man könnte deshalb dieses letzte Lenindenkmal auch als Bestandteil einer historischen Schicht sehen, die zur Geschichte Schwerins und Deutschlands gehört. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser jüngsten deutschen Diktaturgeschichte ist in einer demokratischen Gesellschaft nach wie vor notwendig. Historische Überreste wie das Lenindenkmal könnten zum Anlass genommen werden, über diesen Teil der Geschichte nachzudenken und darüber ins Gespräch zu kommen.

Ein Lenindenkmal in einem demokratischen Gemeinwesen benötigt allerdings eine Kommentierung. Diesen Weg hat auch die Stadt Schwerin eingeschlagen und 2007 an dessen Sockel eine Tafel angebracht. Der Text scheint ein politischer Kompromiss zu sein. Er vereint fundamentale Leninkritik mit Elementen des Leninkults. So benennt die Tafel Lenin einerseits als Diktator und Verbrecher, andererseits geht sie dem Denkmal auf den Leim und reproduziert dessen propagandistische Absichten. Welche Passagen sind in diesem Zusammenhang besonders problematisch?

Auf der Tafel ist zu lesen: „Er enteignete Kulaken und Bauern und verteilte den Boden an Besitzlose.“ Tatsächlich verfügte der Rat der Volkskommissare mit seinem Dekret vom 26. Oktober 1917, dass das Land der Gutsbesitzer und der Kirche an die Kreissowjets der Bauerndeputierten übergehe. Damit wurde Grund und Boden nicht verstaatlicht, sondern den Bauern selbst zur Verfügung gestellt. Lenin vollzog mit diesem Schritt allerdings nicht die Umsetzung des eigenen Programms, denn die Bolschewiki traten als Marxisten ja für eine Ablösung des Privateigentums ein. Vielmehr setzten sie eine alte Forderung der Sozialrevolutionäre um, die als Agrarsozialisten einen viel größeren Rückhalt unter der Bauernschaft hatten als die Bolschewiki.

Was waren die Gründe für diese Abweichung von der eigenen politischen Linie? Die Verhältnisse waren im Oktober 1917 weit weniger gestaltbar, als sie die sowjetische Geschichtsschreibung nachträglich dargestellt hat. Denn mit dem Bekanntwerden der Revolution in Petrograd und des Sturzes der Provisorischen Regierung hatten die Bauern das Heft des Handelns selbst in die Hand genommen. Da sie mit einer bevorstehenden Enteignung der Gutsbesitzer rechneten, führten sie vielerorts diese kurzerhand eigenmächtig durch. Je mehr sich die Nachricht von einer schwarzen Umverteilung des Bodens herumsprach, desto mehr Bauern nahmen daran teil, da keiner in dieser entscheidenden Stunde zu kurz kommen wollte.

Lenins Dekret über den Grund und Boden gab somit nur die bereits eingesetzte eigenmächtige Umverteilung des Bodens durch die Bauern frei. Lenin gestaltete also nicht die Verhältnisse neu, sondern die Bolschewiki verzichteten zu diesem Zeitpunkt vielmehr auf eine politische Gestaltung der Agrarfrage. Dies war politisch klug, da man gar keinen Einfluss auf das Geschehen auf dem Land hatte. Es war Stalin, der mit der Kollektivierung der Landwirtschaft diese Entscheidung revidierte und das Heft des Handelns in der Agrarfrage damit wieder in die eigene Hand nahm.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem am selben Tag verkündeten „Dekret über den Frieden“, mit dem Lenin sämtliche Kampfhandlungen einstellen ließ. Auch hier suggeriert die Inschrift der Tafel, Lenin habe hier agiert. Tatsächlich befand sich die Armee bereits in Auflösung, und angesichts der einsetzenden Umverteilung des Bodens hätte man diesen Prozess auch nur mit Gewalt aufhalten können. Denn als die Bauern hörten, dass zuhause der Boden verteilt wurde, desertierten sie in Massen und machten sich auf den Weg nach Hause, um bei dieser Umverteilung nicht zu kurz zu kommen. Formal endete der Krieg für Russland auch nicht mit Lenins Dekret. Dieses war vielmehr ein Aufruf an die Regierungen und Völker Europas, die Waffen niederzulegen. Zu einem Waffenstillstand kam es erst Ende November 1917, und der Frieden von Brest-Litovsk wurde erst im März 1918 unterzeichnet.

Die Kommentierung des Lenindenkmals folgt also der sowjetischen Lesart, indem sie Lenin als politischen Akteur darstellt, der unmittelbar nach der Machtübernahme wichtige Weichen für das Land gestellt habe. Dabei lässt sich das „Dekret über den Grund und Boden“ auch als taktischen Rückzug und das „Dekret über den Frieden“ als vergeblichen Aufruf zur Weltrevolution verstehen.

Noch schwerer wiegt allerdings, dass die Tafel in diesem Zusammenhang von der Enteignung der „Kulaken“ spricht. Es gab nämlich überhaupt keine „Kulaken“. Die Kategorie des „Kulaken“ entsprang allein der Vorstellung der Bolschewiki, dass auf dem russischen Dorf ein Klassenkampf tobe, und die „Kulaken“ diejenigen seien, welche die anderen Bauern ausbeuteten und unterdrückten. Tatsächlich gab es auf dem Land weder einen Klassenkampf, noch jenen „Kulaken“, der ein ganzes Dorf fest in seiner Faust habe (kulak bedeutet „Faust“). Die Bezeichnung „Kulak“ spiegelte also nicht die soziale Realität des russischen Dorfes wider, sondern war vielmehr ein sowjetisches Feindbild. Und dieses Feindbild entfaltete seine volle Wirkungsmacht unter Stalin während der „Entkulakisierung“ von 1929 bis 1933. Rund 30.000 Menschen wurden im Zuge dieser Repressionskampagne erschossen. Etwa 2,1 Millionen wurden in entfernte, unwirtliche Regionen deportiert, zahlreiche von ihnen kamen ins Lager und mussten Zwangsarbeit leisten. Leidtragende waren Bauern, die sich der Kollektivierung widersetzten, oder völlig willkürlich als „Kulaken“ gebrandmarkt wurden. Wenn die Schweriner Tafel von der Enteignung der „Kulaken“ spricht, reproduziert sie alte sowjetische Feindbilder und legitimiert damit auch das Vorgehen der Bolschewiki gegen eine unliebsame Bauernschaft.

Es ließen sich noch weitere Einwände gegen den Text der Tafel vorbringen. Wer kämpfte eigentlich im Russischen Bürgerkrieg gegeneinander: Lenin gegen große Teile des eigenen Volkes oder die Bolschewiki gegen eine recht bunte Schar von Gegnern? Zerschlug Lenin nur die demokratischen Parteien in Russland oder nicht auch konkurrierende sozialistische Parteien? Bereitete Lenin den Weg für die staatliche Massengewalt der 1930er Jahre oder brach Stalin mit den Prinzipien Lenins, indem er nicht nur vermeintliche Feinde, sondern weite Teile der eigenen Partei und der neuen sowjetischen Elite verfolgen ließ?

Vielleicht hätte eine differenzierte Kommentierung weniger eines politischen Kompromisses bedurft, der gleichzeitig die Leistungen als auch die Verbrechen Lenins zu benennen versucht. Notwendig erscheinen vielmehr eine Historisierung Lenins und eine Kontextualisierung des Lenindenkmals selbst.

Der Autor:

Jörg Ganzenmüller ist Historiker. Im Rahmen eines Förderstipendiums forschte er zum Thema Russische Staatsgewalt und polnischer Adel und habilitierte sich 2010 mit einer Studie dazu an der Universität Jena. Seit 2010 hat er die Vertretung des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Universität Jena inne.

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