Anna und der Weihnachtshase (Teil 10)

  • regge vom schulzenhof
Eine Adventsgeschichte zum Lesen und Gucken, zum Zuhören und Staunen. Ein Weihnachtsmärchen in 24 Teilen, die die Zeit bis Heiligabend verkürzen soll.
10.12.2014
Roland Regge-Schulz

10. Dezember

Nur noch zwei Wochen bis Heilig Abend. Anna sitzt in ihrem Zimmer am Fenster und guckt auf die Straße. Noch immer weiß sie nicht, ob der Weihnachtsmann schon von ihrem Herzenswunsch, einem kleinen weißen Hasen, erfahren hat. Und ob er jetzt noch Zeit findet, ihren Brief, den sie ihm gestern geschrieben hat, rechtzeitig vor dem Fest zu lesen, glaubt sie immer weniger, je mehr sie darüber nachdenkt. Der Weihnachtsmann hat viel zu viel zu tun in diesen Tagen.
Annas Gedanken werden immer trüber als plötzlich ein wunderbarer Duft ihre Nase kitzelt. Kein Zweifel es riecht nach Backen. Das ganze Haus riecht nach Weihnachtsplätzchen. Nein, dass sie das vergessen konnte. Einen Tag in der Adventszeit besetzt Annas Vater die Küche. Und dann werden Plätzchen gebacken. Stundenlang rührt und knetet er Teig und schiebt ein Blech nach dem anderen in den Ofen. Gut, Annas Mutter könnte nach einem Rezept aus dem Zauberbuch ihrer Urgroßmutter welche hexen, aber die sehen dann zwar toll aus, riechen und schmecken aber leicht nach Schwefel.
Papas Kekse dagegen sind sehr sehr lecker und duften so herrlich. Alle Verwandten und die gesamte Nachbarschaft werden vom Vater damit versorgt. Für Anna und ihren Bruder J.A.N. sind diese Backtage etwas ganz Besonderes. Sie dürfen dem Vater zur Hand gehen. Sie können Teig naschen, soviel sie wollen, egal ob es nachher Bauchweh gibt. Und sie können ruhig auch mal herum kleckern ohne das gleich gemeckert wird. Denn die Mutter hat an Vaters Backtag keinen Zutritt zur Küche. Der Vater meint: sie bringe nur alles durcheinander und er werde alles schon ordentlich hinterlassen. Die Mutter seufzt dann nur und nachdem der Vater die Küche erschöpft verlassen hat, schlüpft sie hinein und kocht für alle erstmal eine große Kanne Kamillentee. Und ganz nebenbei zaubert sie Ordnung, in das vom Vater angerichtete Chaos.
Doch soweit ist es noch nicht. Jetzt schlüpft erstmal Anna in die Küche. J.A.N. sitzt schon auf dem Tisch und leckt schmatzend eine Teigschüssel aus. Er hat Mehlstaub auf Wangen und Stirn und an seiner Nasenspitze klebt ein Klümpchen Teig. Anna lacht prustend los, aber J.A.N.  lässt sich nicht stören. Glücklich streicht er mit dem Finger den Schüsselrand entlang und steckt ihn wieder mit einem wohligen Grunzen in den Mund.
Anna zeigt J.A.N.  einen Vogel und guckt ihrem Vater zu, wie der mit beiden Händen einen großen Klumpen Teig knetet.
Der Vater freut sich, dass Anna gekommen ist und gibt ihr einen dicken Kuss auf die Wange.
„Gib mir doch bitte mal das Nudelholz aus der untersten Schublade. Meine Hände sind voller Mehlstaub. Ich will nicht auch noch den Schrank schmutzig machen.“
Anna grinst nur. Auf den einen Schrank kommt es nun wirklich nicht mehr an. Die Küche sieht aus wie ein Schlachtfeld auf dem sich ein Huhn und ein Müller mit Eiern und Mehl beworfen haben.
Anna hält dem Vater ihm das Nudelholz hin.
„Du, Papa,“ fragt sie, „warum heißt das Ding eigentlich Nudelholz?“
„Weil man damit Nudeln machen kann.“
Anna lacht: „Das will ich sehen. Wie du mit dem Ding Spaghetti machst, oder Makkaroni.“
J.A.N.  kichert: „Makkaroniholz, Spaghettirolle.“
Mit vollem Mund kichern ist ungesund. J.A.N.  verschluckt sich und hustet ein paar Teigklümpchen auf den Fußboden. Der Vater schaut ihn vorwurfsvoll an. So eine Schweinerei.
Aber auch auf den Fußboden kommt es nun wirklich nicht mehr an.
„Weißt du, Anna“, sagt der Vater, „früher hat man Nudeln mit dem Nudelholz gemacht. Im Prinzip funktionierte das wie jetzt mit den Keksen. Erst wird der Teig gerührt und dann fein ausgerollt. Viel, viel dünner als ich das jetzt hier mit dem Plätzchenteig mache. Und dann wird der Teig in feine Streifen geschnitten und die werden gekocht.
Meine Oma, also eure Uroma hat immer gesagt: Essen hexen schmeckt nicht. Die hat die Nudeln immer selbst gemacht, nie gekauft und erst recht nicht gezaubert, die haben geschmeckt...“
Annas Vater schließt die Augen und leckt sich genießerisch über die Lippen.
J.A.N.  zieht schmatzend den Finger aus dem Mund: „Ich wünsche mir Nudeln zum Mittag. Und zwar lecker Uroma-Nudeln. Weihnachten will ich Nudeln.“
Der Vater schüttelt den Kopf: „Weihnachten gibt es Ente. Wie immer! Das ist Tradition in unserer Familie.“
J.A.N.  wird bockig: „Blöde Ente. Blöde Backpflaumen. Blöde Klöße. Blöder Rotkohl. Nudeln mit Tomatensoße sind dreimal so lecker.“
Anna hat gar nicht hingehört. Ganz genau schaut sie zu, wie ihr Vater Formen aus dem ausgerollten Teig sticht und auf das Backblech legt. Tannenbäume, Sterne, einen Mond und kleine Weihnachtsmänner.
Anna hat eine Idee. Vorhin, als sie das Nudelholz aus der Schublade geholt hatte, hat sie eine kleine Ausstechform entdeckt. Eine Hasenform mit lagen Ohren.
„Papa“, fragt Anna, „darf ich auch ein Blech ganz alleine für mich machen?“
„Wenn du möchtest, gern“, freut sich ihr Vater, hier komm, ich rolle dir den Teig aus und wenn ich mein Blech in den Ofen schiebe, kannst du dein Blech fertig machen.“
„Papa“, fragt Anna wieder, „darf ich ausstechen, was ich möchte?“
„Aber sicher, hier sind die Formen.“
Anna schiebt alle beiseite und holt die Hasenform aus der Schublade. Der Vater schüttelt nur den Kopf. Es ist doch nicht Ostern. Aber Anna sticht 22 kleine Hasen aus und legt sie sorgfältig aufs Blech.
Nach dem Backen bekommen ihre kleinen Hasen eine dicke Schicht aus weißem Zuckerguß und jeweils zwei rote Zuckerkügelchen als Augen.
Vorsichtig, damit die Ohren nicht abbrechen, legt Anna ihre süßen Hasen auf einen Teller und nimmt diesen mit auf ihr Zimmer.
Der Vater füllt seine Gebäcktüten zum Verschenken und überlässt der Mutter großzügig die schmutzige Küche.
Anna aber hat einen Plan. Am Abend, als Mama und Papa erschöpft ins Bett fallen, schleicht sie sich in die Küche, in der Hand den Teller mit ihren süßen, weißen Hasenplätzchen. Nacheinander öffnet sie alle vom Vater gepackten Tüten und steckt einen von ihren Keksen mit hinein. Die werden sich wundern die Leute, denen der Vater seine Plätzchen schenkt. Ein Hase zu Weihnachten. Sie werden sich darüber unterhalten und falls sie den Weihnachtsmann treffen, werden sie ihm davon erzählen. Und der wird wissen, was es mit dem Hasen auf sich hat. Der Weihnachtsmann weiß alles.
Zufrieden schlüpft Anna in ihr Bett und sie träumt von einem Berg aus Hasenplätzchen, so groß wie das rote Haus.