Anna und der Weihnachtshase (Teil 11)
11. Dezember
Heute will sich Anna mit ihrer Mutter in der Stadt treffen. Anna braucht dringend neue Flügelwärmer. Die vom letzten Jahr, die gefallen ihr zwar immer noch richtig gut. Rosa sind sie, mit kleinen Perlen an der Naht, aber sie passen nicht mehr. Annas Flügel wachsen. Noch ein paar Jahre und sie kann damit tatsächlich fliegen. Und was wachsen soll, braucht Wärme. Anna will, dass ihre Flügel wachsen. Und außerdem weiß sie, dass man schnell krank wird, wenn man sich die Flügel unterkühlt. Krank werden darf sie auf keinen Fall. Schließlich muss sie noch den Weihnachtsmann finden, um sich von ihm den weißen Hasen zu wünschen. Und die Schlittschuhe muss sie bei ihm wieder abbestellen.
Wer weiß denn, ob der Nikolaus Bescheid gesagt hat oder ob der Weihnachtsmann in der anstrengenden Vorweihnachtszeit Zeit gefunden hat um ihren Brief zu lesen.
Die Verabredung mit der Mutter am Nachmittag in der Stadt kommt Anna gerade recht. Dort, auf dem Weihnachtsmarkt, ist die Wahrscheinlichkeit den Weihnachtsmann zu treffen ziemlich groß. Obwohl Einkaufen mit der Mutter schrecklich ist. Und Flügelwärmer kaufen ist das Allerschrecklichste. Annas Mutter hat einen Flügelwärmertick. Die geht für ihr Leben gern in diese Läden und selten ohne einen Karton unterm Arm wieder heraus. Eigentlich nie. Ginge es nach Anna, bräuchten sie zum Einkauf höchsten zehn Minuten. Rein, das rosarote Paar anprobieren. Bezahlen. Raus. Aber es geht nicht nach Anna, sondern nach ihrer Mutter. Das heißt mindestens zehn Paar anprobieren. Davon zwei bis drei Paar mindestens zweimal. Dann soll Anna sich unbedingt für Flügelwärmer entscheiden, die sie nicht mal nachts unter der Bettdecke tragen würde. Brauner Samt mit schwarzen Bommeln oder so. Und zum Schluss kaufen sie doch das rosarote Paar.
Anna behält die neuen Flügelwärmer gleich an. Für die alten bekommt sie eine Plastetüte und dann schlendern sie über den Weihnachtsmarkt. Anna liebt diesen Geruch. Es duftet nach gebrannten Vogelbeeren, nach schwarzen Waffeln, nach Trollwurst und Glühwein mit Nebelgeist, den die Erwachsenen trinken, bis sie rote Nasen bekommen. Annas Mutter spendiert einen kandierten Tautropfen und einen Becher Vanillekakao. Aber Anna sagt nicht mal Danke, so beschäftigt ist sie. Denn sie hält Ausschau nach dem Weihnachtsmann. Wo, wenn nicht hier, sollte sie ihn treffen. Aber so viel sie auch guckt, sie kann ihn nicht entdecken. Nur einen, der sich als Weihnachtsmann verkleidet hat. Das erkennt Anna sofort. Der richtige Weihnachtsmann ist groß und kräftig, das weiß doch jedes Kind und nicht so eine klapperdürre Gestalt im schlotternden Mantel.
Die Mutter legt der enttäuschten Anna den Arm um die Schulter: „Komm jetzt. Wir müssen los.“
„Wohin?“
„Zur Schatzkammer. Ich muss noch unsere Kontoauszüge abholen.“
Anna nickt traurig und läuft der Mutter hinterher. Es wird früh dunkel zu dieser Jahreszeit. Es hätte gar keinen Zweck mehr, nach dem Weihnachtsmann Ausschau zu halten. Sie würde ihn in dem Gewimmel doch nicht erkennen. Zumal Anna noch ziemlich klein ist und von unten ist die Sicht noch schlechter. Fliegen kann sie ja noch nicht.
„Ich müsste schon direkt mit ihm zusammen stoßen“, denkt Anna und weil sie soviel denkt, anstatt aufzupassen, hat sie tatsächlich einen Zusammenstoß. Der kam für Anna so plötzlich und unerwartet, dass sie zurück taumelt und unsanft mit dem Hintern auf der Straße landet.
Eine Hand streckt sich ihr entgegen, und hilft ihr mit starkem Griff wieder auf die Beine.
„Kopf hoch, Anna“, grummelt die Stimme über ihr. Aber es ist nicht der Weihnachtsmann. Es ist der grüne Lukas. Annas bester Freund. Neben ihm steht seine Mutter, lebhaft gestikulierend, in ein Gespräch mit Annas Mutter vertieft. Sie unterhalten sich über Flügelwärmer. Natürlich.
Anna schaut Lukas an: „Hast du vielleicht den Weihnachtsmann gesehen?“
Lukas schüttelt nur den Kopf und zieht ein Blatt aus der Tasche. Es ist eine der Kopien des Fotos, auf der Anna stolz das Bild ihres Wunschhasen zeigt.
„Ich hätte ihm das gegeben.“
„Danke, Lukas“, sagt Anna. Am liebsten hätte sie ihn geküsst. Aber das wäre ihm wieder furchtbar peinlich.
Annas Mutter hat es auf einmal sehr eilig. Die Schatzkammer schließt gleich. Gerade noch rechtzeitig schlüpfen sie in die große Eingangshalle. Annas Mutter steckt ihre Karte in den Kopf eines Kontoauszugsholers und Anna hüpft von Stein zu Stein durch die Halle. Sie sind fast allein, nur ein dicker Mann in einem roten Mantel steht vor dem Schalter an dem man Gold abholen kann.
Ein dicker Mann in einem roten Mantel, mit einem langen weißen Bart? Anna traut ihren Augen kaum. Da steht er, der Weihnachtsmann.
„Jetzt oder nie“, denkt Anna und zupft am roten Ärmel.
„Weihnachtsmann?“, fragt sie schüchtern.
Der aber dreht ihr unwirsch den Rücken zu. Doch diese Chance kann und will Anna sich nicht entgehen lassen. Sie zupft erneut am roten Mantel.
„Verschwinde“, faucht der Weihnachtsmann während er sich zu Anna dreht und drohend mit einer Pistole herumfuchtelt.
„Nicht, nicht, bö...böse sein“, stottert Anna aufgeregt, „und wegen der Spielzeugpistole da, wenn es ein Geschenk für meinen Bruder J.A.N. sein soll, ich verrate nichts. Obwohl ich Pistolen blöd finde.“
Der Weihnachtsmann packt Anna am Arm und zischt: „Halt endlich die Klappe du dummes Ding und hau ab!“
Da stimmt doch etwas nicht. Anna hat genau gesehen, dass der Weihnachtsmannn beim Sprechen den Mund nicht bewegt hat. Das muss sie jetzt ganz genau wissen. Mutig zieht sie dem Weihnachtsmann am Bart. Tatsächlich eine Maske. Dahinter kommt das wutverzerrte Gesicht von Roy Bärklabunde zum Vorschein. Dieser Ganove, der einst von Musikanten aus dem Wald vertrieben wurde, treibt seitdem sein Unwesen in der Stadt.
„Du blöde Göre!“, schreit er, schmeißt die Pistole weg und rennt so schnell er kann zur Tür hinaus.
So eine Aufregung nur wegen eines falschen Weihnachtsmannes.
Die Frau hinter dem Goldschalter schnappt kreidebleich nach Luft. Annas Mutter ebenso.
Dann kommt auch noch die Polizei und Anna wird im echten Streifenwagen nach Hause geflogen. Vor der Tür des roten Hauses darf sie sogar das Blaulicht einschalten.
Als Roy Bärklabunde am Abend betrunken in seine Wohnung kommt, warten die Polizisten schon auf ihn.
Aber zu der Zeit liegt Anna schon lange im Bett. Stolz, dass sie geholfen hat, einen echten Räuber zu fangen. Aber viel, viel lieber wäre ihr gewesen, sie hätte den richtigen Weihnachtsmann getroffen.