Anna und der Weihnachtshase (Teil 13)
13. Dezember
Als Anna aufwacht, ist es draußen noch stockfinstere Nacht. Sie schaut auf die kleine Uhr neben ihrem Bett: 5.15 Uhr. Um die Zeit schlafen in der Südstadt noch alle. Bis auf der Nachbar, der Brötchenminister Linke. Der schläft schon lange nicht mehr und steht längst in der Backstube. Er muss den faulen Ofen überwachen, damit dieser rechtzeitig zum Frühstück mit dem Brötchenbacken fertig ist. Und der Nachrichtenmann, der jeden Tag die Zeitung bringt, ist auch schon unterwegs. Anna sieht vom Fenster aus, wie er die Straße entlang stapft, von Briefkasten zu Briefkasten. Dick angemummelt hat er sich mit Pudelmütze, Schal und warmen Winterstiefeln. An den Händen trägt er Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern. Viel lieber würde er Fäustlinge anziehen, aber damit könnte er die Zeitungen nicht richtig greifen. Jetzt steckt er, unten am Gartentor, ihre Zeitung in den Briefkasten. Er schaut kurz hoch und entdeckt Anna am Fenster. Da lacht er, holt eine Zeitung aus seiner Tasche zeigt darauf, dann zeigt er auf Anna und dann ballt er seine Hand zur Faust mit nach oben gestrecktem Daumen, was so viel heißt wie: toll gemacht oder prima.
Anna wird ganz warm vor Freude. Blitzschnell zieht sie sich eine Hose und den dicken Winterpullover über und schlüpft in ihre Hausschuhe, die sind aus dickem Plüsch und sehen aus wie Tigerfüße. Fast fällt Anna die Treppe hinunter, so schnell läuft sie. Sie schlüpft aus der Haustür flitzt an den Gartenzaun und als sie die Zeitung aus dem Kasten zieht, fällt hinter ihr die Haustür ins Schloss. Draußen hat die Haustür keine Klinke, nur einen Knauf. Von draußen kommt man nur mit einem Schlüssel hinein. Aber der Schlüssel steckt drinnen.
Da steht Anna nun, die Zeitung in der Hand, vor der geschlossenen Haustür. Ja, wenn sie größer wäre, dann wäre sie einfach hoch zu ihrem Fenster geflogen und durch den offenen Spalt ins Zimmer geschlüpft.
Es ist lausig kalt. Schon seit Tagen klirrt der Frost. Wenn es so weitergeht, wird der Mühlenteich bald vollends zufrieren und dann können sie darauf Schlittschuh laufen. Aber daran kann Anna im Moment gar nicht denken. Sie friert trotz des dicken Pullovers und der Tigerfußhausschuhe.
Ihr bleibt gar nichts anderes übrig. Sie muss klingeln. So wird sie zwar Mutter und Vater viel zu früh wecken. Die werden sauer sein und schimpfen, aber das ist immer noch besser als vor dem eigenen Haus erfrieren. Gerade will sie auf den Klingelknopf drücken, da geht die Tür auf und der Vater kommt heraus. Er hat sich einen dicken Pullover über den Schlafanzug gezogen und dicke plüschige Elefantenhausschuhe an die Füße. Er will auch zum Briefkasten. Er ist genauso neugierig, was denn über Anna in der Zeitung steht. Und noch viel neugieriger ist er, welches von seinen Fotos denn gedruckt worden ist.
„Nanu, Anna!“, ruft der Vater überrascht, „was machst du denn hier?“
Anna klappert mit den Zähnen: „Z Z Z Zeitung holen.“
„Schnell, komm rein“, der Vater zieht Anna in die Küche und kocht einen Himbeer-Kakao für sie und einen Kaffee für sich. Erst als sie beide vor den dampfenden Tassen sitzen, schlagen sie die Zeitung auf. Ein großer Artikel steht darin. Dazu ein Bild, das zeigt, wie der Schatzkammerdirektor Anna das Sparschwein schenkt. Daneben stehen der Stadtkönig und der Polizeichef und grinsen wie die Honigkuchenpferde. Und dann ist da noch ein kleines Bild, das zeigt Roy Bärklabunde. Annas Vater liest den Artikel laut vor. Aber es steht nichts drin, was Anna nicht längst schon weiß. Na klar, sie war ja schließlich dabei, als alles passierte. Stolz legt Annas Vater ihr den Arm um die Schultern und faltet sorgfältig die Zeitung zusammen. Erst dabei werfen sie einen Blick auf die Titelseite und Anna fällt vor Freude fast der Kakao aus der Hand. Riesengroß prangt dort ein Foto von ihr. Aber nicht irgendeins.
Das Foto!
Genau das Foto, dass Anna mit ihrem Wunschzettel in der Hand zeigt. Ganz deutlich darauf zu erkennen: ihr sehnlichster Wunsch, der Weihnachtshase. Hat der Reporter doch Wort gehalten und sie haben das Foto gedruckt, dass sie ihm gestern mitgegeben hat.
„Wo haben sie bloß dieses Bild her?“ wundert sich Annas Vater. Und freut sich. Schließlich hat er auch dieses Foto geschossen und ein Titelfoto schießt man nicht alle Tage. Anna sagt nichts, aber als sie den Bildtext liest, hat sie Freudentränen in den Augen. Dort steht: „Die kleine Heldin Annabenitacecilia vom roten Haus die Dreiundsechzigste wünscht sich vom Weihnachtsmann einen kleinen weißen Hasen. Wir sind sicher, ihr Wunsch wird in Erfüllung gehen.“
Als Annas Mutter und ihr kleiner Bruder J.A.N. zum Frühstück kommen, klingelt es Sturm an der Haustür. Atemlos steht der grüne Lukas, Annas bester Freund, davor. Er hat eine Zeitung in der Hand und strahlt über beide Backen: „Du bist ein Star Anna, du bist jetzt richtig berühmt...“
„Bist du verrückt, hier so herumzuschreien?“, schnell zieht Anna Lukas ins Haus, „nun beruhige dich doch erstmal. Müssen doch nicht gleich alle mitbekommen.“
„Nicht alle mitbekommen“, prustet Lukas und wird dunkelgrün, „du hast vielleicht ein sonniges Gemüt. Du bist das Titelbild der Zeitung. Du bist die Heldin des Tages.“
Anna schüttelt nur den Kopf. Den kann sie schütteln soviel sie will. Es nützt gar nichts. Denn Lukas hat Recht.
Egal wo sie sich an diesem Tag blicken lässt, nickt man ihr zu. Wildfremde Menschen grüßen sie oder klopfen ihr auf die Schulter. Anna hat das Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Einerseits ist es ja schön berühmt zu sein. Wenn man in der Konditorei plötzlich ein Stück Kuchen geschenkt bekommt oder vom Wurstmann ein Würstchen. Anderseits ist es auch ganz schön anstrengend. Man muss ständig aufpassen, darf nichts falsch machen. Denn alle kennen einen. Da wird schnell geredet. Zum Beispiel: Ja, die Anna, die habe ich gesehen. Eine schöne Heldin ist dass, rennt einfach bei Rot über die Straße. Oder: Diese Anna kann sich nicht mal die Nase ordentlich putzen und die Schuhe kann die auch nicht vernünftig zubinden.
Berühmt sein ist nicht einfach. Und es kommt noch dicker. Am Nachmittag fahren Leute vom Fernsehen vor. Denn Roy Bärklabunde ist ein sehr bekannter Räuber. Wenn so einer eingesperrt wird, interessiert das unsere Zuschauer im ganzen Land, sagt der Mann mit dem Mikrofon. Und der Kameramann filmt den Weihnachtsmarkt, die Schatzkammer von innen und außen und schließlich Anna.
Schon am gleichen Abend kommt der Bericht im Fernsehen. Es ist das erste Mal in Annas Leben, dass sie aus dem Fernseher heraus schaut. Und Anna erzählt allen, dass sie sich zu Weihnachten unbedingt einen kleinen weißen Hasen wünscht und keine Schlittschuhe mehr. Jeder der es hören will, kann es hören. Und der, der es wissen muss, weiß es jetzt.
Erschöpft von soviel Berühmtheit und glücklich kuschelt Anna sich am Abend ins Bett. Eines ist sicher, jetzt weiß der Weihnachtsmann hunderprozentig Bescheid.
Glücklich schläft Anna ein.