Anna und der Weihnachtshase (Teil 14)

  • regge vom schulzenhof
Eine Adventsgeschichte zum Lesen und Gucken, zum Zuhören und Staunen. Ein Weihnachtsmärchen in 24 Teilen, die die Zeit bis Heiligabend verkürzen soll.
14.12.2014
Roland Regge-Schulz

14. Dezember

Diesen Dezember gewinnt Väterchen Frost andauernd gegen Frau Spätherbst beim Pokern. Seit Tagen herrscht eisiges Wetter. In der letzten Nacht waren es sogar minus zehn Grad. So kalt ist es sonst höchstens Ende Januar oder Anfang Februar oder hoch oben in den Bergen. Hier in der Stadt gibt es aber keine Berge. Selbst ringsherum liegt alles flach.
Anna kuschelt sich noch einmal in ihr Bett. Ihr Herz pocht einen freudigen Takt, gerade so als hätte sie Geburtstag. Sie hat fest und gut und lange geschlafen in dieser Nacht. Und sie hat es heute nicht eilig. Seit gestern weiß der Weihnachtsmann hundertprozentig, dass sie sich einen Hasen wünscht und dafür auf ihre Schlittschuhe verzichtet. Riesengroß stand es in der Zeitung, auf der Titelseite sogar. Und am Abend kam es sogar im Fernsehen.
Nun gut, Annas Eltern wollen keine Haustiere. Sie sagen immer halb im Scherz aber durchaus ernst gemeint: „Wir haben Spinnen, Fliegen, Mücken und Kinder in der Wohnung, im Garten streunende Katzen und im Sommer auf der Terrasse Ameisen. Das ist uns Leben genug.“
Niemals würden sie Anna einfach so ein Tier erlauben. Aber gegen ein Geschenk vom Weihnachtsmann sind sie machtlos.

Beim Frühstück zappelt Annas kleiner Bruder J.A.N. völlig aufgedreht herum. Das Frostwetter macht ihn ganz kribbelig.
„Der Mühlenteich ist schon zugefroren“, plappert J.A.N.mit überschlagender Stimme, „wir waren gestern abend noch gucken.“
Anna sagt zu ihren Eltern: „Mit wir meint er sich und den dicken Erik.“
Anna kann Erik nicht leiden, diesen dicken, faulen, feigen Zwergriesen. Außerdem ist Erik viel älter als Jan, nämlich so alt wie Anna. Dass ausgerechnet die beiden befreundet sind, kann Anna gar nicht verstehen, ist aber leicht zu erklären. Der dicke Erik freut sich, überhaupt einen Freund zu haben, und J.A.N. freut sich, dass er so einen großen, starken Freund hat.
J.A.N. lässt sich von Annas Gestänker nicht die gute Laune verderben und plappert munter weiter: „Bald können wir Eishockey spielen. Ich will zu Weihnachten einen neuen Schläger haben. Einen richtig großen, für Erwachsene.“
Neue Schlittschuhe braucht J.A.N. nicht. Er hat gerade die alten von Anna bekommen. Für J.A.N. sind sie zwar noch ein bisschen zu groß, doch er würde schon reinwachsen. Für Anna aber sind sie inzwischen zu klein. Anna läuft für ihr Leben gern Schlittschuh und hatte ursprünglich ein neues Paar beim Weihnachtsmann bestellt. Aber jetzt will sie lieber einen Hasen. Da kann man mal sehen, wie sehr sich Anna diesen Hasen wünscht.

Am Nachmittag holt Anna ihren besten Freund Lukas ab. Der will eigentlich gar nicht raus, bei dieser Kälte. Doch die Sonne scheint und Anna möchte unbedingt zum Mühlenteich. Lukas zieht sich besonders warm an. Einen dicken Pullover, zwei Jacken, zwei paar Socken, dicke Winterstiefel und Skihandschuhe. Dann laufen sie die Straße hinunter ins Stadtzentrum.
Anna wird immer aufgeregter: „Meinst du, der Mühlenteich friert wirklich zu?"
"Hmmh", sagt Lukas.
Woher auch soll er das wissen. Väterchen Frost pokert schlecht und verliert meist gegen Frau Spätherbst oder den Wärmekanzler. Deshalb kann er den Mühlenteich nur alle paar Jahre zufrieren lassen. Aber wenn er zufriert, gerät die Stadt in Aufregung. Der Name Mühlenteich täuscht. Er ist ein kleiner, langgestreckter See mitten in der Stadt. Wer zum Beispiel vom Bahnhof zum Einkaufszentrum will, muss einen weiten Weg um ihn herum laufen, es sei denn, Väterchen Frost hat gewonnen. Und Schlittschuh laufen kann man auf ihm. Er bietet Platz genug für alle. Egal ob Anfänger, Eishockeyspieler oder perfekter Läufer.
Als Anna und Lukas ankommen, stehen schon zwei Jungen am Ufer. Ein großer Dicker und ein kleiner Dünner. Die beiden streiten sich lautstark. Es sind Erik und J.A.N.. In diesem Moment packt der Zwergriese den kleinen J.A.N. am Arm und brüllt: „Das wirst du nicht tun, du Schwachkopf.“
Und J.A.N. schreit: „Lass mich los, du Feigling.“
Anna beginnt zu laufen. Sie will ihrem Bruder helfen. In diesem Moment reißt J.A.N. sich los, hüpft aufs Eis und ruft: „Siehst du, es hält, du Feigling, Feigling, Feigling!“
Anna bleibt vor Schreck stehen. Das Eis ist doch noch viel zu dünn. Der grüne Lukas neben ihr läuft lila an und schreit: „J.A.N., komm da runter, aber schnell!"
Zu spät. Mit einem Krachen bricht Jan durch die Eisdecke. Der Mühlenteich ist tief, sehr tief. Schon ein paar Meter vom Ufer weg kann selbst ein Erwachsener nicht mehr stehen. Erik reagiert am schnellsten. Mit einem Tempo, dass man ihm nie zugetraut hätte, läuft er zum nächsten Haus, dort hängt eine lange Leiter an der Wand. Erik hängt sie aus, schleppt sie zum Wasser und schiebt sie lang aufs Eis, damit J.A.N. sich an ihr festhalten kann. Festhalten ja, doch heraus ziehen kann J.A.N. sich nicht alleine aus dem eisigen Wasser, dafür fehlt ihm die Kraft. Sofort versucht der dicke Erik auf der Leiter übers Eis zu ihm zu kriechen.
Er keucht vor Anstrengung: „Los, holt einen Krankenwagen, schnell.“
Anna rennt ins nächste Haus, damit von dort jemand die Rettungsstelle anruft. Lukas läuft zu Erik.
„Lass mich lieber auf die Leiter, ich bin leichter und du bist stärker. Wenn ich J.A.N. festhalte, kannst du uns vom Eis ziehen.“
Erik nickt. Und sie haben sehr viel Glück. Obwohl das Eis unter der Leiter bedenklich kracht, es hält, und sie können den jämmerlich frierenden J.A.N. an Land holen. Sie ziehen ihm die nassen Sachen aus und er bekommt erstmal ein paar trockene von Lukas, der sich zum Glück ja alles doppelt angezogen hatte.
Schon kommt der Rettungsgleiter. Anna hat ihn hinunter zum See gewunken. J.A.N. kann froh sein. Nur eine kleinen Unterkühlung hat er sich geholt, Dank Eriks schneller Reaktion. Ja, aber wo ist denn der Erik hin. Anna sieht sich suchend um. Im Trubel der letzten Minuten ist er einfach verschwunden. Einfach abgehauen, weil er weiß, dass Anna ihn nicht ausstehen kann und ihr lieber aus dem Weg gehen will.
Und Anna schämt sich gewaltig für alles, was sie über Erik gesagt hatte. Der ist gar nicht feige und träge auch nicht. Sondern ein mutiger Kerl, der ihrem dummen Bruder das Leben gerettet hat. Einen besseren Freund kann J.A.N. gar nicht bekommen.
Sie bringen J.A.N. nach hause, dann nimmt Anna Lukas an die Hand und gemeinsam gehen sie zu Erik. Anna will sich entschuldigen und sie laden ihn ein, zu einem großen Eisbecher als Dankeschön.

Erst am Abend im Bett denkt Anna wieder an ihren Weihnachtshasen und lächelt: „Hase, wenn du schon da wärst, heute hätte ich dir eine Menge zu erzählen.“