Anna und der Weihnachtshase (Teil 15)
15. Dezember
Anna wacht auf, als im Zimmer nebenan ihr Bruder J.A.N. einen schlimmen Hustenanfall bekommt. Er krümmt sich unter seiner Decke, ein Taschentuch fest vor den Mund gepresst. Aber das hilft nicht. Anna setzt sich zu J.A.N. aufs Bett, nimmt ihn in den Arm und gibt ihm einen Schluck Tee. Einen kurzen Moment hilft es. Dankbar lächelt J.A.N.. Dann reizt wieder ein Kribbeln seine Nase. J.A.N. muss furchtbar niesen und schon schüttelt ihn der nächste Hustenanfall. Seine Augen tränen, die Nase läuft und er friert selbst unter der dicken Bettdecke. J.A.N. ist krank. Eine schlimme Erkältung hat er. Und selber schuld ist er. Warum hatte er nicht auf seinen dicken Freund Erik gehört? Warum musste er auf das viel zu dünne Eis des Mühlenteichs gehen. Der dumme J.A.N. soll lieber froh sein, dass er gestern nicht ertrunken oder erfroren ist. Froh kann er sein, dass zufällig Anna mit Lukas dazu kamen. Froh kann er sein, dass sein dicker Freund Erik so schnell reagiert hatte. Aber wie er so daliegt, vom Husten geschüttelt, frierend und schniefend tut er Anna doch leid.
Anna geht hinunter in die Küche und bereitet J.A.N. eine große Tasse heiße Milch mit viel Honig. Die Wörme von Innen hilft gegen das Frieren und der Honig beruhigt den Hals. Gerade will Anna wieder die Treppe hinauf, klopft es zaghaft an der Haustür. Der Zwergriese Erik, J.A.N.s bester Freund, steht davor. Genau der Erik, den Anna gestern morgen noch als dick, faul und feige bezeichnet hat. Genau der Erik, der J.A.N. abhalten wollte, aufs dünne Eis zu gehen und ihn dann gerettet hat, als er eingebrochen war.
Der dicke Erik hatte sich noch nie bis zum roten Haus gewagt. Zwar ist er groß und stark, aber gegen Annas Hohn und Spott doch machtlos.
Nun hatte sich Anna gestern bei ihm entschuldigt, ja sie hat ihn sogar zum Eis eingeladen, da traut er sich zum ersten Mal hierher. Zu Recht, denn Anna freut sich sichtlich, ihn zu sehen.
„Komm schnell rein“, sie zieht Erik in den Flur. Dann drückt sie ihm die dampfende Tasse Milch in die Hand.
„J.A.N.s Zimmer ist oben. Gleich die erste Tür links. Ich mach uns beiden noch einen Erdbeer-Kakao. Für dich einen warmen, du siehst so durchgefroren aus.“
Das hat Anna richtig gesehen. Draußen klirrt noch immer bittere Kälte und Erik musste vom anderen Ende der Südstadt bis hierher einen weiten Weg laufen. Und dann hat er sich auch nicht gleich getraut, zu klingeln.
Ein paar Minuten später sitzen Anna und Erik bei J.A.N. im Zimmer. Dem tut die heiße Milch sichtlich gut. Noch läuft zwar die Nase und die Augen tränen, doch lässt der Husten ihn erst einmal in Ruhe.
Erik bringt gute Nachrichten mit. Gestern Abend haben sich die Südstädter mit den Nordstädtern geeinigt. Wenn Frostwetter bleibt, wollen sie gegeneinander zum großen Eishockeyspiel antreten. Am 22. Dezember um 14.00 Uhr auf dem Mühlenteich.
Anna jubelt. Nord gegen Süd auf dem Mühlenteich ist ein Fest für die ganze Stadt. Bedeutender als Ostern und fast so schön wie Weihnachten. Dazu muss man wissen, dass die Stadt ein kleines Bächlein teilt. Das Bächlein heißt Mühlengraben, weil vor vielen, vielen Jahren hier ein Müller seine Wassermühle baute. Vor der Mühle wurde das Bächlein angestaut und der Mühlenteich entstand. Im Laufe der Zeit siedelten sich immer mehr Menschen rund um die Mühle an. Ungefähr gleichviel jeweils im Norden und im Süden des Mühlengrabens.
Vor hundert Jahren gab es einen strengen Winter. Viel Brennholz wurde gebraucht in diesem Winter, damit ja niemand erfror. Viele Bäume mussten gefällt werden. Und um die Bäume im Stadtwald entbrannte ein heftiger Streit zwischen den Bewohnern nördlich und südlich des Baches. Sie wollten schon mit Knüppeln, Forken und Dreschflegeln aufeinander los gehen, da hatte der Bürgermeister die Idee. Ein Spiel sollte entscheiden. Ein Spiel zwischen Nord- und Südstadt auf dem Mühlenteich. Ein Eishockeyspiel. Damals trieben sie einen kleinen Lumpenball mit einfachen Stöcken übers Eis. Das Spiel endete unentschieden und sie teilten sich friedlich das Holz im Stadtwald.
Wenn es seit dem einen Streit gibt, zwischen Bewohnern der Nord- und der Südstadt heißt es: „Das klären wir auf dem Mühlenteich.“
Aus dem Ernst des ersten Spiels wurde im Laufe der Jahre ein Riesenspaß. Immer wenn Väterchen Frost den Mühlenteich zufrieren ließ, dass war leider nur alle paar Jahre, trafen sie sich zum großen Hockeyspiel auf dem Eis. Das war jedes Mal ein Fest für die ganze Stadt. Jeder brachte irgendetwas mit. Zuerst wurde gespielt, dann der Sieger geehrt und dann wurde getrunken, getanzt und gefeiert bis in die Nacht. Sieger und Verlierer einträchtig miteinander.
Und dieses Jahr wird es wohl wieder so ein Volksfest geben. Anna zappelt vor Aufregung. Mit Sicherheit wird sie nominiert werden, für ihre Südstadt-Mannschaft. Genau wie J.A.N.. Keiner in der Südtstadt geht geschickter mit dem Eishockeyschläger um. Und keiner läuft besser Schlittschuh als sie. Anna vollführt in J.A.N.s Zimmer einen kleinen Freudentanz.
„Das wird großartig, großartiger, am großartigsten“, ruft sie, „Erik, das ist die beste Nachricht seit es Schneemänner gibt.“
Und dann umarmt sie den Zwergriesen und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. Erik läuft puterrot an. Zum Glück bekommt Annas bester Freund der grüne Lukas nichts davon mit. Eifersüchtig wäre der gewesen. Garantiert.
Überhaupt Lukas. Der weiß bestimmt noch gar nichts von dieser tollen Neuigkeit. Anna hat es plötzlich sehr eilig. Sie will ihm die gute Nachricht bringen.
„Machts gut ihr beiden“, ruft Anna von der Tür, „Erik, pass auf den Kleinen auf, ich muss los.“
„Mach ich“, sagt Erik immer noch hochrot im Gesicht.
J.A.N. hustet ihr nur hinterher.
Aber so sehr Anna sich auch beeilt, die gute Nachricht ist schneller. Als sie klingelt, reißt Lukas strahlend die Tür auf und gleichzeitig rufen sie: „Weißt du schon das Neueste!“
Ja sie wissen es beide. Anna von Erik und Lukas von seiner Mutter. Die war dabei, als es gestern Abend im Regierungshaus beschlossen wurde und hat es ihm gerade am Frühstückstisch erzählt.
Und noch eine Neuigkeit hat Lukas. Seine Mutter will morgen mit ihm in die Stadt, Schlittschuhe kaufen.
Da wird Anna traurig. Sie wird gar nicht mitspielen können, sie hat ja gar keine Schlittschuhe mehr. Aus ihren ist sie doch heraus gewachsen, die hat jetzt ihr Bruder J.A.N..
Als Anna am Abend im Bett liegt, überlegt sie sehr lange, ob sie sich nicht doch lieber Schlittschuhe und keinen Hasen wünschen sollte. Und während sie hin und her überlegt, schläft sie ein.