Anna und der Weihnachtshase (Teil 16)
16. Dezember
Als der Wecker rasselt, macht sie gleich nochmal die Augen fest zu. Sie hat so wunderbar geträumt. So aufregend. Sie hat immer noch das Gefühl als schwebe sie übers Eis, den Schläger fest in der Hand. Ja, sie hat geträumt heute ist schon der 22. Dezember, der Tag an dem das große Spiel Nordstadt gegen Südstadt stattfindet. Anna stand auf dem Eis für ihre Südstadt-Mannschaft. Es war kurz vor Schluss, ihr Bruder J.A.N. hat durch die Beine eines Nordstädters einen Traumpass gespielt. Nun lief sie allein auf das gegnerische Tor zu. Sie lief schnell und elegant, keiner konnte ihr folgen. Jetzt noch ein gezielter Torschuss und das Spiel wäre sicher gewonnen. Ausgerechnet in diesem Moment rasselt der Wecker und holt sie aus dem Schlaf. Soviel Mühe sich Anna auch macht. Es gelingt ihr nicht, wieder einzuschlafen und weiter zu träumen.
Ach bestimmt wünscht Anna sich zu Weihnachten doch lieber Schlittschuhe und keinen weißen Hasen mehr.
Aber was passiert denn jetzt?
Anna liegt mit offenen Augen in ihrem Bett und träumt vom Weihnachtshasen. Wie schön es doch wäre, wenn sie ihn schon hätte. Sie könnte ihm jetzt von ihrem Traum erzählen und er würde wissend mümmeln. Auch könnte sie ihm erzählen, dass sie riesige Angst davor hat, den Puck neben das Tor zu schießen. Sie hat Angst davor, dass alle mit dem Finger auf sie zeigen und sagen: Die Anna hat es versaut. Ihrem Hasen könnte sie all so etwas erzählen, der würde kein Sterbenswörtchen verraten. Und wenn man jemand anderem von der eigenen Angst erzählen kann, ist die schon so gut wie weggeblasen.
Heute begleitet Anna den grünen Lukas, ihren besten Freund, ins Stadtzentrum. Eigentlich verspürt sie gar keine Lust dazu. Ihr Taschengold ist lange ausgegeben, was soll sie im Einkaufszentrum ohne Gold zum Einkaufen. Aber Lukas hatte so nett gebeten, da muss Anna einfach mit. Lukas Mutter will heute Schlittschuhe für ihn kaufen. Nur hat sie von Schlittschuhen überhaupt keine Ahnung. Lukas auch nicht viel. Anna dagegen, kennt sich mit Schlittschuhen aus. Und deshalb will Lukas sie unbedingt dabei haben. Als Beraterin.
Anna und Lukas laufen extra einen kleinen Umweg, hinunter an das Ufer des Mühlenteichs. Genau an die Stelle, an der der kleine J.A.N. vorgestern ins Eis eingebrochen war. Das Loch ist schon wieder zugefroren. Den Mühlenteich bedeckt eine geschlossene Eisdecke. Noch ein paar Tage Frost und das Eis liegt dick genug, dass man es gefahrlos betreten kann.
Im Einkaufscenter ist die Hölle los. Wie jedes Jahr vor Weihnachten drängeln und schubsen sich die Menschen von Laden zu Laden, stehen ungeduldig Schlange an den Kassen und kaufen die Regale leer. Schlittschuhe bekommt man unten im Winterladen. Das weiß Anna. Jedesmal wenn sie mit Mama oder Papa hier war, mussten die mit ihr in das Geschäft. Anna hatte eine ganz bestimmte Sorte für sich ausgesucht und immer nachgeschaut, ob die denn auch noch in ihrer Größe vorrätig waren.
Noch will Lukas nicht zu den Schlittschuhen. Sie haben noch Zeit. Erst in einer Stunde sind sie mit seiner Mutter verabredet.
Im Einkaufscentrum sind überall Märchenpanoramen aufgebaut mit lebensgroßen Figuren die sich bewegen. Anna und Lukas setzen sich auf eine Bank und schauen zu, wie der Wolf immer wieder die Tür aufstößt und das kleinste Geißlein gleichzeitig in der großen Standuhr verschwindet.
„Sag mal“, fragt Anna, „weißt du eigentlich woher der Weihnachtsmann all die Geschenke bekommt?“
„Ach, Anna“, seufzt Lukas, „ich glaube der lässt sich vom Zauberer helfen. Und was der Zauberer nicht schafft, besorgen die Eltern und tun dann nur so, als würde der Weihnachtsmann auch diese Geschenke bringen.“
Anna wiegt den Kopf: „Die Eltern? Nein, dass glaube ich nicht. Ich glaube der Weihnachtsmann geht selbst einkaufen. Aber wo?“
Lukas denkt kurz nach und sagt: „Hier zum Beispiel, im Einkaufszentrum. Wenn, dann geht er ganz normal einkaufen, wie alle. Nur wird er es heimlich machen, ohne rote Mütze und ohne roten Mantel. Sonst wüsste man ja gleich, was es zu Weihnachten gibt und die Überraschung ist futsch.“
Das klingt gut. Anna nickt. Dann fragt sie: „Wo bekommt man kleine, weiße Hasen?“
„In der Tierhandlung“, sagt Lukas, „komm mit, ich zeige sie dir.“
Und dann fahren die beiden mit der Rolltreppe bis in die dritte Etage. Die Tierhandlung ist klein und es stinkt darin. Aber es gibt auch eine Menge zu sehen. Fliegende Fische, Papadus, Minisaurier und Riesenmücken. Und es gibt einen großen Glaskäfig, in dem drei kleine Hasen hoppeln.
„Kaninchen“, sagt der Verkäufer, „das sind Kaninchen, keine Hasen.“
Anna ist egal, was der Verkäufer sagt. Für sie sind das Hasen, egal ob sie nun Kaninchen oder Nilpferd heißen. Zwei der Hasen sind gefleckt wie Scheckenpferde. Aber einer ist schneeweiß mit roten Augen.
„Schau nur Lukas“, ruft Anna, „da der kleine, weiße mit den roten Augen. Mein Weihnachtshase.“
Der Verkäufer verdreht die Augen. „Kaninchen“, sagt er, „das ist ein Kaninchen.“
Anna lacht: „Wieviel kostet denn eigentlich dieser Kaninchenhase. Kostet der mehr als Schlittschuhe?“
Der Verkäufer wackelt mit dem Kopf. Er mag den Winter nicht. Und Wintersport schon gar nicht, und er hat auch keine Ahnung wieviel Schlittschuhe kosten.
„Tut mir leid“, sagt er, „aber das Weiße wurde schon verkauft und wird in den nächsten Tagen abgeholt.“
„An wen denn?“, fragt Anna neugierig. Doch das darf der Verkäufer Anna natürlich nicht verraten.
Plötzlich steht Lukas Mutter hinter ihnen. Flüchtig schüttelt sie Anna die Hand und küsst Lukas auf die Wange und redet wie ein Wasserfall: „Ach, schön, dass ich euch hier finde. Tut mir schrecklich leid, aber mit den Schlittschuhen, dass schaffe ich heute nicht mehr. Ich habe noch dringend einen Termin im Königshaus und dann muss ich nochmal ins Büro.“
Sie gibt Lukas ein bisschen Gold: „Hier kauft euch was Leckeres. Bis nachher. Die Schlittschuhe kaufen wir morgen. Tschaui!“
Und weg ist sie.
„Sei nicht traurig, Lukas“, sagt Anna auf dem Heimweg und flattert fröhlich hüpfend mit ihren kleinen Flügeln, „ich komme morgen wieder mit und helfe dir beim Schlittschuhe aussuchen.“
Anna freut sich so sehr auf morgen. Dann geht sie mit Lukas wieder ins Einkaufszentrum und wird dort den kleinen weißen Hasen besuchen. Anna glaubt ganz fest, dass es der Weihnachtsmann war, der das Hasenkaninchen für sie gekauft hat und in den nächsten Tagen abholen wird.