Anna und der Weihnachtshase (Teil 17)

  • regge vom schulzenhof
Eine Adventsgeschichte zum Lesen und Gucken, zum Zuhören und Staunen. Ein Weihnachtsmärchen in 24 Teilen, die die Zeit bis Heiligabend verkürzen soll.
16.12.2014
Roland Regge-Schulz

17. Dezember

Anna springt aus dem Bett. Sie freut sich fast so , als ob schon Weihnachten wäre. Dabei ist noch eine ganze Woche Zeit bis Heilig Abend. Aber Anna will heute mit Lukas wieder in die Stadt, ins Einkaufszentrum.
Alleine würde sie nicht gehen. Nicht, dass jemand jetzt glaubt: die Anna sei ängstlich. Weit gefehlt. Anna ist eine sehr mutige kleine Stadtfee, dass hat auch schon der böse Dieb Roy Bärklabunde leidvoll erfahren.
Aber ins Einkaufszentrum, besonders wenn es so voll ist, wie in diesen Tagen, geht sie nicht mehr allein, seit sie vor zwei Jahren im Getümmel ihre Mutter verloren hatte.
Oh, Anna erinnert sich noch ganz genau, wie sie damals tränenüberströmt von Laden zu Laden lief. Und keiner beachtete sie. Alle waren mit sich selbst beschäftigt, hetzten vorbei, schubsten sie gar aus dem Weg. Einem Zufall war es zu verdanken, dass sie ein dickbäuchiger Zwergriese gegen Otto Graf schubste.
Ja, genau der Riesentroll im Ruhestand. Der Otto Graf, der auch in Annas Straße wohnt und der vom Anpacken so große, schwielige Hände hat. Diese Hände legten sich beruhigend auf ihre  Wangen. Dann hoben diese Hände die kleine Anna auf die kräftigen Schultern von Otto Graf. Von da oben hatte sie einen wunderbaren Überblick. Und der Riesentroll ging mit ihr durch das Einkaufszentrum, von Laden zu Laden, bis Anna endlich ihre Mutter entdeckte, die mit Tränen in den Augen auch von Laden zu Laden lief und ihre kleine Anna suchte.
Beim Frühstück sagt Anna zu ihrer Mutter: „Weißt du noch, damals, im Einkaufszentrum, als wir uns verloren hatten?“
„Hör bloß auf“, stöhnt die Mutter, „mir läuft immer noch ein kalter Schauer den Rücken herunter, wenn ich nur daran denke.“
„Ich will heute wieder ins Einkaufszentrum“, sagt Anna.
„Du willst doch nicht etwa alleine gehen?“
„Nein, natürlich nicht“, lacht Anna, „mit Lukas und seiner Mama. Darf ich?“
Annas Mutter atmet auf: „Na klar. Pass aber auf und grüß Lukas Mutter von mir.“
Annas Vater drängelt. Die Eltern müssen los, sie wollen zum Bahnhof und Oma Annabenitacecilia die 62., kurz Benita genannt, abholen. Oma Benita ist noch eine Waldfee und fühlt sich nicht wohl in der Stadt. Wie jedes Jahr bezieht sie aber über die Feiertage das Gästezimmer des Hauses. Sie ist so unberechenbar wie Feen nun mal sind. Sagt jedenfalls Annas Papa. Denn wie lange Oma Benita bleibt, kann man nie vorhersagen. Einmal fuhr sie schon vor Weihnachten wieder und einmal blieb sie fünf Wochen lang. Dieses Jahr wird sie gar nicht kommen. Aber das wissen Annas Eltern noch nicht. Sie werden zuerst vergeblich am Bahnhof warten, dann unruhig den Bahnsteig absuchen, dann das Bahnhofspersonal mit Fragen löchern. Schließlich werden sie bei Oma Benita anrufen. Und Oma Benita wird ihnen erzählen, dass ja Schnee kommen könnte, bei diesen Temperaturen. Und dann würden vielleicht die Züge nicht mehr fahren und sie müsste bei uns bleiben und könnte nicht mehr zurück und neues Futter ins Vogelhäuschen auf dem Baumwipfel streuen. Annas Mutter wird stinkesauer sein und Annas Vater lachen. Er hat es ja gesagt: Frauen sind unberechenbar.
Anna ist es egal ob Oma Benita kommt oder nicht. Die Oma schläft unten im Gästezimmer, und da stört sie nicht weiter. Auf ihre guten Ratschläge kann Anna auch verzichten und Geschenke sind von ihr sowieso nicht zu erwarten. Oma Benita sagt immer: Ein zuviel an materiellen Gütern, hindert den jungen Menschen im Streben nach höheren Zielen. Was sie damit meint, weiß Anna nicht. Was es aber bedeutet schon: Von Oma Benita gibts nichts.

Als Lukas endlich klingelt, wartet Anna schon lange.
„Du bist zu spät“, schimpft sie.
Lukas hebt die Schultern: „Wir haben Zeit genug, wir sind doch mit  Mama verabredet, die kommt nie pünktlich.“
Wahrscheinlich hat Lukas die Unpünktlichkeit von ihr geerbt. Und woher sollte er wissen, dass Anna vor dem Schlittschuhkauf unbedingt noch einmal in die Tierhandlung möchte, nach dem weißen Hasen sehen.

Auf dem Weg ins Zentrum beeilt sich Anna und zieht Lukas hinter sich her. Sie  versucht, die verlorene Zeit aufzuholen. Doch vergeblich. Lukas Mutter ist zur Überraschung aller pünktlich und erwartet sie schon am Eingang.
„Ja, sag mal, was machst du denn für ein langes Gesicht“, fragt sie Anna, während sie Lukas einen Kuss auf die Stirn gibt.
Anna stottert beschämt: „Ach, es ist nur, wir wollten, ich wollte doch nur noch mal zum Hasen gehen.“
„Ja, was denn für ein Hase, liebste Annabenitacecilia?“, fragt Lukas Mutter, sie weiß doch gar nichts von Annas Wunsch. Also erklärt Anna noch mal der Reihe nach.
Vom Bild im Kalender bis zum Hasenkaninchen, das sie gestern in der Zoohandlung gesehen hatten.
Lukas Mutter nickt und dann fragt sie: „Meinst du den Hasen, dessen Bild ihr bei mir im Büro auf dem Kopierer habt liegen lassen?“
Anna nickt und Lukas sagt: „Dafür habe ich Hausarrest abgesessen. Das ist verjährt.“
Lukas Mutter lacht: „Gut ihr beiden. Wir gehen in die Tierhandlung. Aber zuerst kaufen wir Schlittschuhe für Lukas. Schließlich will ich, dass mein Sohnemann mich nicht blamiert, wenn wir auf dem Mühlenteich gegen die Nordstadt spielen.“
Anna hüpft an der linken Hand von Lukas Mutter aufgeregt hin und her. An der rechten Hand geht Lukas, ein wenig traurig. Ja, hätte er sich beeilt, hätte er jetzt Annas Hand halten können.
Der Schlittschuhkauf geht schnell. Anna kennt sich gut aus. Sie empfiehlt ein Paar dunkelblaue, der Verkäufer nickt anerkennend, Lukas probiert die Schlittschuhe an, sie passen wie angegossen, und schon sind sie an der Kasse.
Auf der Rolltreppe in den dritten Stock greift Anna tief in ihre Jackentasche. Eine Mohrrübe steckt darin, für den kleinen, weißen Hasen. 
Umsonst, der große gläserne Kaninchenkäfig gähnt leer. Entsetzt sucht Anna mit den Augen die Sägespäne auf dem Boden ab. Keine Spur. Im Terrarium daneben blinzelt eine große fette Schlange satt und zufrieden.
„Mein Hase?“ ruft sie verzweifelt. Anna zieht am Kittel des Verkäufers: „Wo ist mein Hase?“
„Kaninchen“, sagt der Verkäufer, „du meinst ein Kaninchen.“
Aber als er die Tränen in Annas Auge sieht, streckt er den Zeigefinger aus. „Siehst du, den Mann dahinten, der hat gerade das letzte abgeholt. Das kleine weiße.“
Anna sieht den Mann gerade noch im Parkhaus verschwinden. Eine dunkle Wollmütze trägt er und eine grüne Jacke, wie auch ihr Vater eine hat. Das muss er sein, der Weihnachtsmann, verkleidet, damit ihn niemand beim Einkaufen erkennt.
Hoffentlich geht es dem Hasen gut beim Weihnachtsmann, denkt Anna und zählt laut: „Nur noch eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Nächte.“