Anna und der Weihnachtshase (Teil 19)
19. Dezember
Anna sitzt auf ihrem Bett und lässt die Beine baumeln. Ihr Blick wandert durchs Zimmer. Ja, genau, den kleinen Schrank wird sie beiseite rücken und den Stuhl in die andere Ecke stellen. Dadurch entsteht Platz für den Käfig. Dort wird sich ihr Hase ganz sicher wohl fühlen. An der einen Seite des Käfigs hat er viel Licht vom Fenster und die andere Ecke liegt im dunklen Schatten des Schrankes.
Annas Vater steckt seinen Kopf zur Tür hinein: „Kommst du mit?“
„Wohin?“, fragt Anna.
„Einen Tannenbaum holen.“
„Aber klar“, ruft Anna und springt vom Bett.
Tannenbaum holen, ist jedes Jahr eine spannende Angelegenheit. Und auch diesmal beginnt es wie immer. Mutter und Vater streiten sich um die Blaufichte im Vorgarten. Als sie vor Jahren ihr rotes Haus in die Südstadt stellten, kauften sie zu Weihnachten eine klitzekleine Tanne im Topf. Nach dem Fest wurde sie ausgepflanzt, Oma Benita die Waldfee, streute ein bisschen Feenstaub darüber und siehe da, das Bäumchen gedieh prächtig. Aus dem kleinem Ding wuchs eine schmucke Tanne. Schön ist sie, da sind sich beide einig. Nur im Vorgarten findet Annas Mutter sie falsch platziert. Nun fordert sie Jahr für Jahr, das Annas Vater sie endlich ausgräbt und umpflanzt. Aber der vertröstet sie immer auf Weihnachten. Dann würde er die Tanne absägen, dass hätte gleich doppelten Nutzen. Der Baum wäre dann endlich aus dem Vorgarten verschwunden, sie würden ihn in die Stube als Weihnachtsbaum holen und so viel Gold sparen, weil sie keinen kaufen müssten. Und mit viel Glück und ein bisschen Feenstaub von Oma Benita könnten sie ihn nach dem Fest wieder in den Garten pflanzen.
Jedes Jahr zu Weihnachten aber tut Annas Vater aber der Baum so leid, wie er prachtvoll im Vorgarten steht, und er legt die Säge weg und zieht los, einen anderen Baum kaufen.
So ein Weihnachtsbaumkauf ist eine Wissenschaft für sich. Dass weiß auch Anna inzwischen. Ihr Vater geht nicht einfach los und schnappt sich den erstbesten Baum beim erstbesten Händler. Oh, nein. Zu Weihnachten muss es schon ein ganz besonderer Baum sein.
Nicht zu dicht dürfen die Zweige stehen, sonst könnte man gar nicht die vielen Kugeln, Strohsterne, Glocken, Kerzen und das Lametta anbringen.
Schön gleichmäßig soll er gewachsen sein, aber auch nicht zu weit ausladend, weil er sonst zuviel Platz wegnehmen würde. Und an einer Stelle soll der Baum ein bisschen kahl sein. Dann kann er näher an die Wand gestellt werden.
Erstaunlich schnell findet Annas Vater dieses Jahr gleich beim ersten Händler einen passenden Weihnachtsbaum. Was heißt hier einen, drei waren es, die in Größe, Form und Farbe exakt seinen Wünschen entsprechen. Gerade mal fünf Minuten brauchen sie, um die Bäume zu finden. Und dann eine halbe Stunde, in der sich der Vater nicht entscheiden kann. Endlich fragt er nach dem Preis.
Der Preis ist für Annas Vater auch sehr wichtig beim Weihnachtsbaumkauf. Zuviel darf die Tanne nicht kosten. Schließlich steht sie nur ein paar Tage im Zimmer und wer weiß ob die geizige Oma Grete genügend Feenstaub herausrückt, dass der Baum noch mal anwächst im Garten.
Als der Händler den Preis nennt, wird Annas Vater dunkelrot im Gesicht.
„Unverschämtheit“, faucht er, „ich bezahle doch nicht für ein Bäumchen soviel wie für einen ganzen Wald.“
Der Händler zuckt nur mit den Schultern und stellt den Baum zu den anderen zurück.
„So ein Halsabschneider, so ein Ganove“, wütend zieht der Vater Anna hinter sich her. Zum Glück gibt es jede Menge Weihnachtsbaumhändler in der Stadt.
Aber die Händler haben sich abgesprochen.Sie verlangen für ihre Bäume ebenso horrende Summen.
Es ist zum Verzweifeln. Auf dem Kichplatz treffen sie Otto Graf, den hilfsbereiten Riesentroll aus ihrer Straße. Der schickt Annas Vater zur Bauversorgung, denn dort und nur dort gibt es Weihnachtsbäume für wenig Gold.
Nur die paar Bäume die es dort noch gibt, sind furchtbare Strünke. Der Baustoffhändler hebt nur bedauernd die Schultern. Er hatte im Wald gleich tausend Stück bestellt und deshalb hat er sie auch günstig bekommen. Und weil er seine Bäume preiswert weiterverkauft hat, wurde er sie reißend los. Ja, wären sie vor zwei Wochen gekommen.
Annas Vater ist wütend. Er kann doch nicht ohne einen Baum nach hause gehen.
Anna fragt: „Papa, warum fahren wir nicht einfach dahin, wo die Bäume her kommen?“
Annas Vater schlägt sich mit der Hand auf die Stirn, natürlich, da hätte er ja auch von allein drauf kommen können. Und Anna? Die freut sich, sie geht gern in den Wald. Vielleicht sehen sie ja auch ein paar wilde Hasen, natürlich nur einfache braune und nicht so ein schönen weißen, wie sich sich wünscht. Oder vielleicht treffen sie einen Wurzelgnom oder gar einen Borkennager.
Es dämmert schon, als Anna mit ihrem Vater durch die Schonung stapft. Sie müssen sich beeilen. Denn man darf sich nicht einfach so einen Baum aus dem Wald holen.
„Wie findest du den hier?“, fragt Annas Vater.
„Gut, der gefällt mir“, sagt Anna.
„Ähhhe“", räuspert es hinter ihnen.
Anna und ihr Vater stehen stocksteif vor Schreck. Aus dem Nichts ist plötzlich der Waldmeister aufgetaucht: „Was, bitteschön, soll dass hier werden?“
„Äh, äh, wir“, stottert Annas Vater, „wir spazieren hier nur so rum und haben gerade festgestellt, dass unser Baum, den wir gekauft haben, viel schöner ist als die hier.“
Und weil das eine glatte Lüge ist, wächst die Nase des Vaters ein Stückchen.
„So, so“, sagt der Förster, der die lange Nase zum Glück nicht bemerkt hat, „ich an ihrer Stelle würde jetzt lieber nach hause gehen, es wird schneller dunkel als sie glauben. Und eine Nacht im Winterwald kann ich wahrlich nicht empfehlen.“
Kein Borkennager, kein Wurzelgnom, nicht mal einen Hasen haben sie gesehen. Und einen Baum haben sie auch nicht. Niedergeschlagen trotten sie nach hause.
„Irgendwas sieht anders aus“, sagt Annas Vater an der Gartenpforte, „nur was?“
„Der Baum!“, ruft Anna.
Tatsächlich die Tanne aus dem Vorgarten ist verschwunden. Jetzt steht sie auf der Terrasse, mit angespitztem Stamm im Weihnachtsbaumständer.
Annas Mutter öffnet die Tür: „Da seid ihr ja endlich ihr Weihnachtsbaumbesorger. Nun guckt nicht so wie Ping-Pong-Guine beim Sturzflug. Otto Graf hat mir geholfen. Kommt rein, ich habe Nudelauflauf gemacht."
Also jemandem der so lecker Nudelauflauf kocht, kann man gar nicht böse sein. Anna und ihr Vater sind sooo hungrig und essen sooo viel, dass sie sich mit dicken Bäuche nur noch mit Mühe ins Bett schleppen können.
„Nur noch fünf Tage“, denkt Anna, „und dann schläft sie erschöpft ein...“