Anna und der Weihnachtshase (Teil 20)

  • regge vom schulzenhof
Eine Adventsgeschichte zum Lesen und Gucken, zum Zuhören und Staunen. Ein Weihnachtsmärchen in 24 Teilen, die die Zeit bis Heiligabend verkürzen soll.
20.12.2014
Roland Regge-Schulz

20. Dezember

Väterchen Frost lacht dieses Jahr das Glück beim Pokern. Frau Spätherbst hat keine Chance. In der letzten Nacht waren es sogar 11 Grad unter Null. Anna weiß es ganz genau. Denn ihr Vater hat draußen an der Terrasse ein Thermometer aufgehängt, auf dem man die tiefste und die höchste Temperatur des Tages ablesen kann. Ja, und die höchste Temperatur war gestern mittag: minus 3 Grad.
Trotz der Kälte schläft die Schneekönigin noch. Dass finden viele Kinder sehr schade, sie hätten gerne Schnee. Dafür überzieht aber eine spiegelglatte Eisdecke den Mühlenteich. Und die ist inzwischen dick genug gefroren, dass man gefahrlos darüber gehen kann. Dem großen Eishockeyspiel Nordstadt gegen Südstadt in zwei Tagen steht nichts mehr im Wege.
Anna will mit ihrem besten Freund, dem grünen Lukas zum Mühlenteich, wo schon die ersten Spieler aus beiden Stadtteilen auf die Freigabe des Eises warteten. Links die aus der Nordstadt. Und auf der rechten Seite die Südstädter. Doch Lukas hat keine Zeit.
„Ich kann noch nicht“, sagt er, „ich muss dringend etwas anderes erledigen und heute habe ich die Gelegenheit dazu. Mama musste zum Oberkaiser und kommt erst am Abend zurück. Ich bin alleine. Darauf habe ich seit Tagen gewartet. Ich will ihr doch zu Weihnachten einen Stollen backen.“
„Igitt“, sagt Anna, „Stollen schmeckt eklig.“
„Geht so“, lacht Lukas, „aber meine Mutter isst den für ihr Leben gern. Besonders wenn er selbst gebacken und nicht gezaubert wurde. Die freut sich. Ganz bestimmt.“
Allein will Anna auch nicht zum Mühlenteich gehen. Und wenn sie Lukas jetzt hilft, wird er schneller fertig und sie können noch zusammen zum Eis.
Lukas holt eine große Schüssel aus dem Schrank. Während er Mehl und Zucker hineinstreut, fragt er : „Sag mal, was schenkst du eigentlich deinen Eltern zu Weihnachten?“
„Wieso soll ich denn etwas schenken?“, fragt Anna, „es hat doch keiner Geburtstag. Und Weihnachten bringt der Weihnachtsmann die Geschenke und fertig. Nur Omas und Opas und vielleicht noch Onkel und Tanten schenken den Kindern manchmal extra etwas. Außer meine geizige Oma Benita natürlich. Aber die flattert dieses Jahr ganz allein durch ihren Wald.“
„Ich mag deine Oma“, sagt Lukas und reibt Zitronenschale in die Schüssel, „kannst du mal das Öl aus dem Regal holen und ein Ei aus dem Kühlschrank.“
Anna staunt, wieviel Zutaten Lukas auf den Tisch gestellt hat. Zitronat steht da und gehackte Mandeln und sogar Salz.
Anna nimmt ein Tütchen in die Hand: „Kardamom. Sag mal Lukas, was ist eigentlich Kardamom?“
„Keine Ahnung“, Lukas zuckt mit den Schultern, „ich bin froh, dass ich das Zeug überhaupt in einer Schublade gefunden habe. Aber es muss mit in den Stollen, jedenfalls steht es so im Rezept.“
Da haben die beiden aber Glück, dass weder Lukas Mutter noch Annas Vater dieses Gespräch mit angehört haben,. Die hätten sofort zu einem großen Vortrag angesetzt und mit erhobenem Zeigefinger erzählt, dass Kardamom ein Ingwergewächs aus Südasien ist. Eine Pflanze, deren Samen und Früchte ätherische Öle enthalten und als feinaromatisches Gewürz Anwendung finden. In dieser Erklärung stecken schon wieder eine Menge neuer Fragen. Denn welches Kind weiß schon was Ingwer ist oder wo genau Südasien liegt. So wären sie von einem zum nächsten gekommen und der Stollen würde und würde nicht fertig werden.
Anna schiebt Rosinen und Korinthen zu Häufchen zusammen: „Schon eigenartig, wie wenig von einer Weintraube übrig bleibt, wenn der Saft raus ist.“
Lukas grinst: „Die sehen aus wie Hasenköttel.“
Anna steckt ihm die Zunge aus.
Da prustet Lukas los: „Hasenköttel, Hasenköttel, wir backen einen Hasenköttelkuchen.“
„Igitt“, sagt Anna. Aber dann muss auch sie lachen: „weißt du was, ich werde das ganze nächste Jahr die Hasenköttel für dich sammeln. Dann brauchst du nicht extra Rosinen und Korinthen kaufen, wenn du für deine Mutter einen Stollen bäckst."
„Igitt“, Lukas schüttelt sich.
Anna sitzt plötzlich ganz still: „Weißt du, ich freue mich so auf Weihnachten und auf meinen Weihnachtshasen.“
„Oh, je“, seufzt Lukas, „du und dein Weihnachtshase.“
Lukas kann das Rührgerät mit den Knethaken kaum noch halten. Anna packt mit an. Dann muss der Teig noch einmal gehen. Anna lacht, denn ein Teig kann ja gar nicht gehen. Doch Lukas rümpft nur seine Nase, denn in der Bäckersprache heißt das so, da muss Hefeteig nun mal gehen.
Endlich können sie den Klumpen in den Ofen schieben. Eine Stunde muss der Stollen jetzt gebacken werden. Das ist viel Zeit aber nicht genügend um in die Stadt an den Mühlenteich zu gehen. Also machen es sich Anna und Lukas im Wohnzimmer vor den Fernseher bequem. Mit dunklem, bittersüßen Kakao und krümeligen Keksen auf der Couch. Das dürfen sie sonst nicht. Aber heute siehts ja zum Glück keiner.
Als es in der Wohnung lecker nach Kuchen riecht, holt Lukas den Stollen aus dem Ofen.
Anna seufzt: „Wenn so ein Stollen nur halb so gut schmecken würde, wie er riecht.“
„Ja, dann“, lacht Lukas, „würden wir ihn allein essen und ich müsste mir ein neues Geschenk für Mama ausdenken. Und Bauchschmerzen würden wir bekommen, furchtbare Bauchschmerzen, weil wir uns maßlos überfressen würden.“
Anna bestreicht den gebackenen Klumpen mit flüssiger Butter und dann streuen sie Puderzucker darüber, bis der Stollen aussieht wie ein kleiner Schneeberg. Und die Küche? Die sieht vielleicht aus. Anna und Lukas geben sich  besonders viel Mühe und bringen alles wieder in Ordnung. Lukas Mutter soll nichts merken, wenn sie heute abend nach hause kommt. Den Stollen wird Anna bis Weihnachten bei sich zu hause verstecken,  damit Lukas Mutter ihn nicht  schon vor dem Fest findet. Wäre ja schade um die Überraschung.
Das Stollenbacken hat länger gedauert als sie dachten. Zu spät ist es jetzt für das Eis und den Mühlenteich.
Anna muss sich beeilen, dass sie noch rechtzeitig nach hause kommt, bevor es völlig dunkel ist.

Durch den Stollen im Schrank duftet das ganze Zimmer. Anna schnuppert und lacht. Sie hat eine Idee: Sie wird nächstes Jahr vor Weihnachten eine Tüte von diesen kleinen fast schwarzen Korinthen kaufen. Die wird sie Lukas schenken und so tun, als wären das gesammelte Hasenköttel. Auf das Gesicht, dass Lukas machen wird, freut sie sich jetzt schon. Und mit einem Grinsen schläft Anna ein.