Anna und der Weihnachtshase (Teil 21)
21. Dezember
Anna steckt mit dem Kopf unterm Bett und leuchtet mit der Taschenlampe in die dunkelste Ecke. Nichts. Der zweite Strumpf bleibt verschwunden. Mit einem Krachen fliegt die Tür auf. Anna fährt vor Schreck hoch und verbeult sich dabei den Kopf am Bettgestell.
J.A.N., Annas kleiner Bruder, tanzt durchs Zimmer: „Der Mühlenteich, sie haben den Mühlenteich freigegeben. Endlich!“
Das ist eine wirklich gute Nachricht. Wenn die Stadt den Mühlenteichs freigibt, liegt das Eis so dick, dass selbst ein fetter Saurier gefahrlos darüber gehen könnte. Nun steht dem für morgen geplanten großen Eishockeyspiel Nordstadt gegen Südstadt nichts mehr im Wege.
Anna jubelt und tanzt mit J.A.N. durchs Zimmer. Die Beule am Hinterkopf hat sie schon völlig vergessen!
Heute trifft sich die halbe Stadt am und auf dem Mühlenteich. Schlittschuhe werden aus dunklen Kellern geholt. Eishockeyschläger von Spinnennetzten befreit. Wer jetzt noch keine Schläger oder keine Schlittschuhe besitzt, hat Pech oder muss zaubern können. Denn in der ganzen Stadt gibt es keine mehr zu kaufen.
Anna und J.A.N. holen Lukas, ab. Der freut sich so sehr, dass er endlich seine neuen Schlittschuhe ausprobieren kann. Und dann gehen sie zu dritt, J.A.N.s dicken Freund Erik abholen. Fassungslos steht er in der Tür und starrt die drei an. Hatte er eben richtig gehört. Sie wollen ihn zum Schlittschuh laufen abholen? Ihn, den beim Sport keiner in seiner Mannschaft haben will? Ihn, der bei der Wahl immer als Letzter stehen bleibt? In diesem Moment könnte der dicke Erik vor Glück die Welt umarmen.
Auf dem Mühlenteich herrscht Hochbetrieb. Nord- und Südstädter trainieren verbissen für das große Spiel. Anna geht mit ihren Freunden zur Westseite. Traditionell die Seite für die Südstadt. Auf der Ostseite tummeln sich die Nordstädter. Genau dazwischen, in der Mitte des Teiches gehen die Fußgänger vom Bahnhof in der Südstadt zum Einkaufszentrum in der Nordstadt oder umgekehrt.
Lukas, J.A.N. und Erik ziehen sich die Schlittschuhe an und laufen eine Proberunde. Anna hat keine Schlittschuhe. Ihre alten sind zu klein, mit denen läuft jetzt ihr Bruder J.A.N.. Sie bleibt allein am Rand des Teiches sitzen.
Ob Anna jetzt doch lieber Schlittschuhe haben möchte?
Aber nein, Anna wünscht sich immer noch ihren Hasen. So gern sie auch Schlittschuh läuft, und so gern sie jetzt auch mit ihren Freunden ein paar Runden auf dem Teich gedreht hätte, der Hase ist ihr wichtiger.
Das Anna überhaupt keinen Grund zur Trauer hat, liegt an Lukas. Denn dieser Lukas ist wirklich der allerbeste Freund den es gibt auf der Welt. Lukas teilt sich mit Anna die Schlittschuhe. Nein, nicht jeder einen. Das wäre ja Quatsch. Nach ein paar Runden kommt Lukas zu Anna ans Ufer. Er strahlt vor Begeisterung über seine neuen Schlittschuhe, die Anna für ihn ausgesucht hatte. Am liebsten würde er immer weiter laufen. Aber Lukas weiß, wie sehr Anna sich aufs Eis freut. Er tauscht die Schuhe mit ihr und Anna braust ab. Also ehrlich, Schlittschuh laufen, dass kann die Anna wirklich wunderbar. Sie läuft vorwärts, rückwärts, fährt elegante Schlängellinien zwischen den anderen hindurch und alles in einem Tempo, dass einem die Spucke wegbleibt. Mitten auf dem Eis steht Brötchenminister Linke. Dick eingemummelt hat er sich, mit Schal und extra warmen Stiefeln. In der linken Hand hält er ein Notizbuch und in der rechten einen Stift mit dem er etwas in das Buch schreibt. Ab und zu winkt er einen Schlittschuhläufer zu sich heran. Der Brötchenminister ist der Chef der Südstadtmannschaft. In seiner Jugend war er ein gefürchteter Eishockeyspieler. Stark und schnell war er und schoss mit seinen Toren die Südstadt dreimal hintereinander zum Sieg.
J.A.N., Lukas und Anna. Nacheinander schreibt Bäcker Linke sie alle in sein Buch. Und zur Überraschung den Zwergriesen Erik auch. Kaum zu glauben, Erik ist ein hervorragender Torwart. Erstmal versperrt er schon mit seinem dicken Bauch viel Platz im Tor. Dazu reagiert er unglaublich flink und dass er keine Angst hat, wissen wir ja seit er J.A.N. aus dem Mühlenteich gerettet hatte.
Inzwischen hat Anna wieder die Schuhe getauscht und sitzt am Ufer, als plötzlich ihr Vater neben ihr steht. Ganz weiß ist der im Gesicht. Er umarmt Anna und drückt sie kurz und heftig an sich. Dann winkt er Lukas vom Eis und spricht leise und ernst mit ihm. Aus Lukas Augen kullern dicke Tränen. Annas Vater legt ihm den Arm um die Schulter und zieht ihn zu sich heran. Jetzt kann Lukas sich gar nicht mehr halten. Er vergräbt sein Gesicht im Mantel und schluchzt hemmungslos.
Anna wird ganz kalt: „Was ist? Papa, bitte sag es mir.“
„Lukas Mutter“, sagt der Vater leise, „sie hatte einen schweren Unfall. Es war schon rot, aber sie hatte es zu eilig und wollte noch schnell über die Straße. Ein Auto kam, der Fahrer, er versuchte noch zu bremsen, aber es war glatt, zu glatt.“
Anna schießen die Tränen in die Augen.
„Lukas Mutter liegt jetzt im Krankenhaus. Alle Feen und Zauberer sind gerufen. Sie müssen ihre Kräfte vereinen.“
Jetzt weint auch Anna. Der arme Lukas ist jetzt ganz allein. Er hat doch nur seine Mutter. Seinen Vater hat er noch nie gesehen, abgehauen ist der, einfach abgehauen als Lukas noch ein Baby war. Ganz fest drückt Anna Lukas Hand. So fest, als wolle sie sie nie mehr loslassen.
„Kommt jetzt, ihr beiden“, sagt Annas Vater, „wir gehen nach hause. Auf J.A.N. passt Erik auf. Er hat es mir versprochen.“
Ein fremdes Auto steht vor dem Haus. Es gehört der Waldschnepfe Tante Clara, der älteren Schwester von Lukas Mutter. Sie wird sich erst einmal um ihn kümmern, ihn mit zu sich nach Baumhausen am Rande des großen Gebirges nehmen, obwohl sie Kinder nicht ausstehen kann. Lukas kann seine Tante auch nicht leiden. Zimtzicke ist noch das netteste Wort, dass ihm zu ihr einfällt. Doch heute hat er keine Kraft mehr, sich zu wehren. Und allein zu hause bleiben, dass geht ja auch nicht.
Vor der Reise fährt Lukas mit ihr und Annas Vater ins Krankenhaus.
Erst spät am Abend, kommt endlich Annas Vater zurück. Leise setzt sich zu ihr aufs Bett: „Es ist gut gelaufen, aber wir müssen die Nacht noch abwarten. Die Oberhexe sagt, erst morgen früh können wir sicher sein. Versuch ein wenig zu schlafen mein Schatz.“
Als der Vater geht, stellt Anna sich ans Fenster schaut in die Sterne und flüstert: „Bitte, lieber Weihnachtsmann, vergiss den Hasen, vergiss die Schlittschuhe, vergiss alle Geschenke für die nächsten zehn Jahre. Ich wünsche mir nur noch eines. Ich wünsche mir, dass Lukas Mutter wieder gesund wird. Bitte!“
Plötzlich wird Anna ganz warm ums Herz. Sie schließt die Augen und sieht den Weihnachtsmann. Er nickt ihr freundlich zu und sagt mit tiefer, brummiger Stimme: „Alles wird gut. Aber du musst jetzt ein wenig schlafen.“