Anna und der Weihnachtshase (Teil 22)

  • regge vom schulzenhof
Eine Adventsgeschichte zum Lesen und Gucken, zum Zuhören und Staunen. Ein Weihnachtsmärchen in 24 Teilen, die die Zeit bis Heiligabend verkürzen soll.
22.12.2014
Roland Regge-Schulz

22. Dezember

Manchmal ist man hundemüde, kann aber trotzdem nicht schlafen. Lange hatte Anna wach gelegen in der letzten Nacht. Irgendwann sind ihr dann doch die Augen zugefallen. Annas Eltern sind am frühen Morgen wieder ins Krankenhaus gefahren, und als sie zurück kommen finden sie ihre Tochter immer noch schlafend im Bett.
„Anna, Anna“, flüstert ihr Vater und streicht ihr über den Kopf, „aufstehen, du Schlafmütze.“
Anna öffnet langsam die Augen: „Papa“, fragt sie, „wie geht es Lukas Mama?“
„Gut, sehr gut sogar“, sagt Annas Vater lächelnd, „die Oberhexe meint, es ist, als wäre ein Wunder über Nacht geschehen. Lukas Mutter war heute morgen schon wieder hellwach. Ich habe mit ihr gesprochen. Und dann verlangte sie nach einem Feelefon, weil sie meinte, sie müsse noch soviel organisieren. Sie hat natürlich keines bekommen. Aber eines ist sicher. Lukas Mutter wird wieder richtig gesund. Nur gedulden muss sie sich. Es wird ein Weilchen dauern, bis sie wieder ganz die Alte ist.“
Anna lacht glücklich: „Aber Papa, man sagt doch zu einer Frau nicht Alte.“
„Das ist doch nur eine Redewendung“, sagt Annas Vater, „damit meinte ich, dass sie wieder so wie früher wird. Jetzt aber raus aus dem Bett. Wir haben den 22. Dezember.“
Aber ja, der 22. Dezember. Der Tag des großen Eishockeyspiels Nordstadt gegen Südstadt auf dem Mühlenteich.
Es scheint, als wäre die ganze Stadt auf den Beinen. Von allen Seiten strömen sie auf das Eis des Mühlenteichs. Die Mannschaftsleiter sammeln ihre Teams. Brötchenminister Linke für die Südstadt und der Herr Schatzkammerdirektor Münzmann für die Nordstadt.
So ein Eishockeyspiel gibt es auf der ganzen Welt nur einmal. Gespielt wird über den gesamten Mühlenteich. Der Name Teich täuscht. Er misst 300 Meter in der Länge und gut 50 Meter in der Breite. Die Tore  wurden vom Fußballplatz geholt. Und in jeder Mannschaft stehen dreißig Spieler auf dem Eis. Ausgewechselt werden kann, so oft jeder will. Nur eine Regel gilt es zu beachten. Aus jedem Jahrgang darf höchsten ein Spieler auf dem Eis stehen. So kommt es, dass vom Enkel bis zum Opa die Generationen miteinander und gegeneinander Eishockey spielen. Da Anna und Lukas gleich alt sind, dürften sie nur abwechselnd spielen. Lukas Schlittschuhe würden für beide genügen. Werden sie aber nicht. Denn Lukas wohnt jetzt bei Tante Clara. Und in der gestrigen Aufregung hat natürlich keiner an die Schlittschuhe gedacht. Die liegen gut verschlossen in Lukas Wohnung.
Anna schießen ein paar Tränen in die Augen. Aus der Traum vom großen Spiel. Zuschauer wird sie nur sein heute. Ohne Schlittschuhe kann man nun mal nicht Eishockey spielen.
Nein, sie wird nicht heulen. So wichtig nimmt sie Eishockey nun auch nicht. Hauptsache Lukas Mutter geht es wieder  besser und sie wird wieder ganz gesund.
Ein Wunder, hat die Oberhexe gesagt. Und Anna weiß, wer dieses Wunder vollbracht hat, es war der Weihnachtsmann.
Pünktlich um 14 Uhr soll das Spiel beginnen. Pünktlich um 14 Uhr stellt sich der Stadtkönig mitten aufs Eis und hält eine Rede. Er spricht von Fairness und von Tradition. Er spricht von der Entwicklung der Nord- und der Südstadt.
Vor allem spricht er viel zu lang. Als es den Spielern und dem Puklikum zu lang wird, fängt Brötchenminister Linke an, Beifall zu klatschen. Alle Spieler und das Publikum fallen ein. Mitten in der Rede, die sich der Bürgermeister doch so schön hat ausgedacht. Gegen den Applaus kommt er nicht an. Also verneigt er sich, setzt die Trillerpfeife an den Mund und pfeift das Spiel an.
Kaum wurde der Puck freigegeben führt die Südstadt mit 1:0. Noch bevor sich alle richtig warm gelaufen haben, schlängelt sich Annas kleiner Bruder J.A.N. wieselflink durch die Abwehr der Nordstädter. Ein schnelles Abspiel vor das Tor und Otto Graf braucht nur seinen Schläger hinzuhalten.
Anna jubelt. Dass fängt ja gut an. Und es kommt noch besser. Schon läuft der nächste Angriff der Südstädter. Wieder ist der wieselflinke J.A.N. am Puck. Abspiel auf Otto Graf und es steht 2:0. Nicht mal fünf Minuten sind gespielt.
„Tor, Tor, Tor“, schreit Anna. Wenn das so weitergeht, verlieren die Nordstädter so hoch, dass sie noch auf Jahre hinaus den Spott der Südstädter ertragen müssen.
Aber jetzt hat sich die Abwehr der Nordstadt warm gelaufen. Große starke Kerle stehen da hinten, die lassen sich nicht noch mal vom kleinen  J.A.N. überraschen. Vorne ist nun kein Durchkommen mehr für Annas Mannschaft. Dafür brennt es hinten lichterloh. Wenn der dicke Erik nicht so ein hervorragender Torwart wäre, hätte es sehr, sehr schlecht ausgesehen. Aber Erik fängt Torschuss um Torschuss ab. Erstaunlich beweglich wirft er sich dem Puck entgegen. Ihm ist es zu verdanken dass die Nordstädter nur zwei Tore schießen. Zur großen Pause steht es Unentschieden.
Anna umarmt den dicken Erik: „Mann, du bist echt ein Superspitzentorwart.“
Und der dicke Erik wird puterrot: „Danke.“
Annas Vater reicht einen Becher heißen Tee. Dankbar nimmt Anna ihn in die kalten Hände. Aus ihren Augen kullern zwei kleine Tränen.
Forschend schaut der Vater Anna ins Gesicht: „Weinst du, weil du nicht mitspielen kannst?“
Anna schüttelt den Kopf: „Nein Papa, deswegen nicht, vielleicht nur ein bisschen. Ich weine wegen Lukas. Es wäre so schön wenn er hier wäre, bei so einem wichtigen Spiel. Aber Lukas muss bei seiner Tante sein, bei dieser grässlichen Zicke.“
Das Spiel geht weiter. Beide Mannschaften schenken sich nichts. Erst kurz vor Ende gelingt den Nordstädtern ein Tor. 3:2. Nur noch fünf Minuten und sie haben gewonnen. Erik kommt aus dem Tor und läuft zu Anna an den Rand.
„Ob die jetzt noch ein Tor schießen, ist egal. Verloren ist verloren. Aber wenn wir eins schießen, steht es Unentschieden.“
Erik zieht seine Schlittschuhe aus und reicht sie Anna: „Los jetzt, du musst ein Tor für uns schießen. Du kannst das!“
Es passiert genau so, wie Anna es geträumt hatte. Sie gleitet über das Eis.  J.A.N. spielt durch die Beine eines Nordstädters einen Traumpass. Nun läuft sie allein auf das gegnerische Tor zu. Sie läuft schnell und elegant, keiner kann ihr folgen. Jetzt nur noch ein gezielter Torschuss. Anna holt aus. Die Schlittschuhe sind zu groß.
Beim Schuss stolpert sie über die eigenen Füße.
Vorbei der Puck.
Vorbei die letzte Chance.
Die Südstadt hat verloren.
Keiner macht ihr einen Vorwurf. Im Gegenteil. Alle versuchen, sie zu trösten. Aber Anna ist untröstlich. Sie liegt auf ihrem Bett und heult hemmungslos ins Kissen. Ihr Vater setzt sich zu ihr und nimmt sie in den Arm: „Morgen, Anna, habe ich eine wunderbare Überraschung für dich.“
„Einen Hasen?“
„Aber nein, ich bin doch kein Weihnachtsmann und außerdem ist morgen erst der 23. Schlaf jetzt. Morgen, ganz früh, müssen wir los fahren.“