Anna und der Weihnachtshase (Teil 23)
23. Dezember
Gerade noch rechtzeitig zum Fest ist die Schneekönigin aufgewacht. Und sie war sehr fleißig in der Nacht. Dicke Flocken verstecken die Stadt unter einem wunderschönen, weißen Teppich. Der Schnee dämpft die Schritte und deckt einen Mantel jungfräulicher Unschuld über Schmutz und schlechte Gedanken. Auch über Annas Gedanken.
Weinend war sie gestern Abend eingeschlafen. Im Traum war sie wieder Schlittschuh gelaufen. Ganz allein lief sie auf das gegnerische Tor zu, schnell und elegant, keiner konnte ihr folgen. Jetzt nur noch ein gezielter Torschuss. Anna holt aus... und in diesem Moment wacht sie schweißgebadet auf. Viel zu früh. Das Licht der Straßenlaterne spiegelt sich im Schnee, drängt das Dunkel der Nacht in den Schatten der Büsche. Unten in der Küche rumort Annas Vater.
Sie seufzt: „Ach du mein kleiner Hase. Wenn du da wärst, könnte ich mich bei dir ausheulen.“
Anna seufzt, sie denkt an Lukas Mutter, die im Krankenhaus liegt. Anna hat sich doch so gewünscht, dass sie wieder gesund wird und dafür auf alle Geschenke verzichtet, sogar auf den Hasen. Und dann denkt Anna an Lukas. Sie vermisst ihren besten Freund so sehr. Wäre er gestern da gewesen, hätten sie das Spiel bestimmt nicht verloren. Morgen schon kommt der Weihnachtsmann und Lukas wohnt bei seiner schrecklichen Tante. Schon wieder kullern ein paar Tränen aus Annas Augen.
Leise wird die Tür geöffnet. Annas Vater steckt den Kopf hinein: „Schön, dass du schon wach bist. Komm runter, wir frühstücken. Und zieh dich warm an, gleich nach dem Essen fahren wir los.“
Anna schaut ihren Vater fragend an: „Wie, was, wohin los?“
„Das ist meine Überraschung“, lacht er, „komm erst mal runter.“
Anna vergisst für einen Moment all den Kummer. Eine Überraschung schon einen Tag vor dem Fest. Toll. Was mag es nur sein? Bekommt sie etwa trotz allem ihren Hasen? Aber nein, ihr Vater hat ja gestern unmissverständlich gesagt, er sei nicht der Weihnachtsmann. Aufgeregt stürmt Anna die Treppe hinunter.
„Psst“, macht ihr Vater, „du weckst noch Mama und J.A.N. auf.“
„Los, Papa, verrate mir die Überraschung!“, fleht Anna.
Ihr Vater lacht: „Ich bin doch kein Verräter. Aber Pssst. Wir beide holen jemanden ab. Und diese Person wird dann vorläufig bei uns wohnen. Im Gästezimmer.“
„Also kommt Oma Benita doch noch.“, sagt Anna.
Ihr Vater grinst nur.
Anna weiß nicht so genau, ob sie sich freuen soll. Manchmal geht ihr die Oma mit ihren komischen Sprüchen auf die Nerven. Klugscheißerei, sagt Anna heimlich dazu. Die Oma nennt es Altersweisheit. Auf jeden Fall wirds nicht langweilig, wenn Oma kommt. Klingt ja schon lustig, dreimal Annabenitacecilia im roten Haus. So heißen die Feen in ihrer Familie schon seit Generationen. Oma ist die 62., die Mutter die 63. und Anna die 64..Damit es nicht ständig zu Verwechslungen kommt, nennen sie die Oma kurz Benita, die Mutter Cecilia und Anna eben Anna.
Doch, Anna freut sich auf die Oma. Schon weil ein Ausflug allein mit Ihrem Vater, richtig Spaß macht. Wenn die Mutter nicht dabei ist, behandelt ihr Vater Anna sie wie eine erwachsene Fee. Er erzählt von seiner Arbeit. Anna darf seine Fotoapparate in die Hand nehmen und sogar fotografieren. Und manchmal tut er so, als wüsste er nicht weiter und fragt Anna um Rat.
Es dauert ganz schön lange, bis sie den Schneeberg vom Auto geschaufelt haben. Als sie endlich losfahren wird es langsam hell.
Anna war schon ein paar mal bei Oma Benita. Irgendwie hatte sie die Strecke zu ihr anders in Erinnerung. Doch das täuschte bestimmt durch den vielen Schnee auf den Straßen. Auch waren sie viel länger unterwegs als sonst. Aber ihr Vater fuhr heute auch besonders langsam und vorsichtig, denn teilweise war es gefährlich glatt.
Gegen Mittag packen sie auf einem Rastplatz belegte Brote aus, trinken dazu Tee aus der Thermosflasche und bewerfen sich mit Schneebällen. Die Schneekönigin arbeitet immer noch. Wieder im geheizten Auto, mit dem sanften Gebrumm des Motors im Ohr, schläft Anna ein. Erst als das Motorengeräusch erstirbt, wacht Anna wieder auf. Sie halten vor einem großen Baumhaus, mit einem riesigen Garten hinter einem kunstvoll geschmiedeten Tor.
„Wir sind da“, sagt Annas Vater.
„Wo, da?“, fragt Anna. Sie blickt sich suchend um. Hier, jedenfalls, war sie noch nie. Mit Sicherheit nicht.
„Ist Oma umgezogen?“
Annas Vater lacht: „Nein.“
Anna versteht gar nichts mehr. Und ihr Vater schmunzelt nur, steigt aus und stapft auf die Haustür zu. Zielstrebig drückt er auf den Klingelknopf. Statt Oma Benita öffnet eine fremde Frau die Tür, eine vornehme Schnepfe, die den Vater ins Haus bittet. Moment mal, irgendwie kommt Anna diese Frau bekannt vor. Die hat sie doch schon mal gesehen. Wo war das nur? Na klar, vorgestern war es. Die Schnepfe ist Lukas Tante Clara. Diese schreckliche Waldschnepfe, die Lukas mit zu sich nach Baumhausen genommen hat, solange seine Mutter im Krankenhaus bleiben muss.
Was hatte Annas Vater gesagt? Sie holen jemand ab. Und dieser jemand wird dann vorläufig bei ihnen wohnen.
„LUKAS“, kreischt Anna und springt aus dem Auto. Da fliegt auch schon die Tür des Baumhauses auf.
„ANNA“, schreit Lukas und springt die Stufen der Treppe hinab. Und schon liegen sie sich in den Armen. Also ehrlich. Zu hause in ihrem Stadtviertel hätten sie dass nie im Leben gemacht. Aber hier sieht es ja keiner. Außer Annas Vater, der oben in der Tür steht und schon wieder grinst. Neben ihm steht Tante Clara und rümpft angewidert ihre vornehme Nase.
Die lange Rückfahrt vergeht wie im Fluge.
Anna und Lukas haben sich so viel zu erzählen, obwohl sie sich gerade mal zwei Tage lang nicht gesehen haben.
Als Annas Vater anruft, um Bescheid zu sagen, dass sie erst spät abends wieder ankommen, erfahren sie noch eine fantastische Neuigkeit. Es wird ein Rückspiel geben. Am 2. Weihnachtstag werden Nord- und Südstadt wieder im Eishockey gegeneinander antreten. Punkt 14 Uhr auf dem Mühlenteich. Jetzt sind Anna und Lukas kaum noch zu halten und der Vater am Lenkrad schmunzelt wortlos in sich hinein.
Todmüde föllt Anna in ihr Bett. So ein wunderbarer Tag. Lukas wohnt jetzt bei ihr, seine Mutter wird wieder gesund und es wird ein zweites Eishockeyspiel geben. Unbedingt muss sie sich morgen beim Weihnachtsmann bedanken. Und glücklich lächelnd schläft Anna ein.