Anna und der Weihnachtshase (Teil 24)
24. Dezember
Heute ist Heilig Abend. Endlich. Gleich nach dem Frühstück holt Annas Vater den Tannenbaum von der Terrasse in die Wohnstube. Ja, genau, den Tannenbaum, der noch vor ein paar Tagen im Vorgarten stand.
Normalerweise mach Annas Vater aus dem Schmücken eine Wissenschaft. Allein bis die Lichter richtig platziert sind, dauert es sonst mindestens eine Stunde. Heute geht es viel schneller. Zu fünft stehen sie vor der Tanne und packen die Kartons mit Kugeln, Engeln und Lametta aus. Anna und J.A.N. und ihr Vater, Lukas, der seit gestern mit im Haus wohnt und der Zwergriese Erik. Zur Überraschung aller stand J.A.N.s dicker Freund plötzlich vor der Tür. Er wolle nur mal so vorbei schauen, hat er gesagt. Warum auch nicht. Inzwischen mag sogar Anna den dicken Erik.
Gemeinsam behängen sie den Baum, nur Oma Benita und Annas Mutter fehlen. Aber Omas kluge Ratschläge vermisst niemand und Annas Mutter hat sich schnell in die Küche zurückgezogen und bereitet den Kartoffelsalat für das Abendbrot vor. Selbstverständlich gibt es auch bei Anna am Heilig Abend Kartoffelsalat mit Würstchen. Ja, was denn sonst? Anna kennt überhaupt niemanden, der an diesem Abend etwas anderes isst.
Aber was ist heute bloß mit Annas Vater los? Sonst durften die Kinder nicht mal in die Nähe kommen, wenn er den Baum schmückte. Heute dürfen sie alles. Sogar die großen goldenen Glitzerkugeln anhängen. Die Kinder sind glücklich und ruckzuck glänzt der Baum fertig geschmückt. Zugegeben, so perfekt wie sonst, sieht die Tanne nicht aus. Aber schön strahlt sie trotzdem.
Das Mittagessen fällt heute aus. Die Aufregung schlägt auf den Magen und außerdem wollen sie sich den Hunger für das Abendbrot aufheben. Anna Mutter drückt allen nur ein Probierwürstchen in die Hand. Dann gehen sie in die Kirche. Annas Vater meint, dass gehöre sich so, denn schließlich feiern sie ja im Prinzip Geburtstag. Den von Jesus Christus. Die Kinder freuen sich. Es ist so ergreifend feierlich in der Kirche und es werden wunderschöne Weihnachtslieder gesungen. Sogar Erik kommt mit, obwohl er bis heute noch nie in einer Kirche war.
Als sie wieder auf die Straße treten, zaubert die Schneekönigin ein paar extra dicke Flocken vom Himmel.
„Ich werde dann mal nach hause", sagt Erik und zieht ein Gesicht, als ob es Eisenbahnschienen regnet. Annas Mutter bemerkt sofort, dass etwas nicht stimmt. Manchmal können Feen Gedanken lesen.
Erik will gar nicht nach hause. Seine Eltern betreiben einen Ausschank. Und heute haben sie alle Hände voll zu tun. Denn wer allein lebt, aber am Heiligen Abend nicht allein sein will, kommt zu ihnen. Zum selber Feiern in Familie bleibt dadurch keine Zeit.
Entschlossen hebt Annas Mutter den Finger und feelefoniert mit Eriks Eltern.
„Ja, danke, ihnen auch ein frohes Fest“, sagt sie ins Telefon und zu Erik, „deine Eltern sagen, wenn du willst, kannst du mit zu uns kommen.“
Und ob Erik will. Vor Freude tanzt er über den glatten Bürgersteig, bis er ausrutscht und der Länge nach hinfällt. Jetzt sieht er aus wie ein dicker Schneemann. Alle lachen.
So langsam steigt die Spannung. Anna wird immer aufgeregter. Obwohl sie doch gar nichts bekommen wird vom Weihnachtsmann. Denn ihr Wunsch ist schon in Erfüllung gegangen. Statt Schlittschuhen oder dem Hasen hat sie sich doch gewünscht, dass Lukas Mutter wieder gesund wird. Aber heute endlich kann sie sich beim Weihnachtsmann bedanken. Doch erstmal gibt es Kaffee und Kuchen.
Upps, was für ein Kuchen? Bei all der Vorbereitung hat Annas Mutter einfach den Kuchen vergessen. Lukas tuschelt mit Anna und sie läuft hoch in ihr Zimmer und holt den selbst gebackenen Stollen.
„Eigentlich sollte der ja ein Geschenk für meine Mutter sein“, sagt Lukas, „aber ich möchte, also Anna und ich möchten, den Stollen allen schenken. Als Dankeschön, weil ich doch hier bleiben darf, bis Mama wieder gesund ist.“
Sogar Anna, die Stollen eigentlich eklig findet, isst heute ein großes Stück.
Es klingelt.
Nein, nicht der Weihnachtsmann steht vor der Tür sondern Oma Benita.
„Wisst ihr“, seufzt sie, „eine Familie gehört Weihnachten zusammen. Tut mir leid, aber ich konnte nicht anders. Und mein Vogelhaus kann mir mal.“
Darüber müssen alle lachen. Irgendwie hätte Oma Benita auch gefehlt, findet selbst Annas Vater.
„Bumm, bumm, bumm“, klopft es plötzlich laut an der Tür. Und diesmal ist steht tatsächlich der Weihnachtsmann davor.
Ein großer kräftiger Kerl mit einem dicken Bauch, einem langen weißen Bart im Gesicht und klobigen Stiefeln an den Füßen. Schneeflocken schmelzen auf seinem roten Mantel und auf dem Kopf trägt er einen..., einen...Zylinder.
Ja, tatsächlich. Der Weihnachtsmann hat auf seinem Kopf keine pelzbesetzte, rote Mütze sondern einen schwarzen Zylinderhut.
„Ho, ho, ho“, brummt der Weihnachtsmann, „hier sind aber viele Leute, da passe ich kaum noch ins Zimmer, mit meinem großen, schweren Sack.“
Heiligabend muss sich der Weihnachtsmann beeilen, denn auf der ganzen Welt warten sie auf ihn. Für ein gemeinsames Lied allerdings reicht seine Zeit. Und während sie singen, greift er in seinen Sack und jeder bekommt von ihm ein bunt eingepacktes Paket. Erst Oma Benita, dann Annas Eltern und ihr Bruder J.A.N.. Dann Lukas und der dicke Erik. Als der Weihnachtsmann sich zu Anna hinunter beugt, umarmt sie ihn fest und flüstert in sein Ohr: „Danke, lieber Weihnachtsmann, danke für Lukas Mutter und für Lukas und, ach für alles.“
Der Weihnachtsmann streicht Anna über den Kopf, greift nochmal in seinen Sack und zu ihrer Überraschung bekommt auch Anna ein großes Paket. Es raschelt und knistert als alle ihre Geschenke auspacken. Oma Benita bekommt einen silbernen Zauberstab, Annas Vater einen fliegenden Fotoapparat, die Mutter mit Perlen besetzte Flügelschoner, J.A.N. einen ferngesteuerten Saurier, Erik eine Eishockey-Torwartausrüstung, Lukas einen Zauberkasten.
Und Anna?
In Annas Paket liegen Schlittschuhe.
„Ho, ho, ho“, ruft der Weihnachtsmann und winkt zum Abschied. Beim Hinausgehen stößt er fast mit dem Hut an den Türrahmen.
„Wisst ihr“, sagt Lukas, „der Weihnachtsmann sieht irgendwie aus wie Brötchenminister Linke.“
Anna lacht: „Der kann aber keine Wunder vollbringen. Dass kann nur der Weihnachtsmann.“
„Ho, ho, ho“, ruft der Weihnachtsmann und dreht sich in der Tür noch einmal um, „fast hätte ich etwas vergessen.“
Er nimmt seinen Zylinder ab, wedelt dreimal mit der Rute darüber und murmelt etwas in seinen Bart. Dann hält er Anna den Hut hin. Vorsichtig greift sie hinein und mit einem Freudenschrei holt sie ein kleines, weißes Kaninchen heraus.
Annas Weihnachtshase.