Anna und der Weihnachtshase (Teil 3)

  • regge vom schulzenhof
Eine Adventsgeschichte zum Lesen und Gucken, zum Zuhören und Staunen. Ein Weihnachtsmärchen in 24 Teilen, die die Zeit bis Heiligabend verkürzen soll.
03.12.2014
Roland Regge-Schulz

3. Dezember

Der Nachtfrost zaubert Eis auf im freien parkende Autos. Ihre Scheiben sehen jetzt aus wie dickes Milchglas. Raureif überzieht Wiesen, Bäume und Büsche mit einem weißen Mantel.
Anna rollt sich unter der Bettdecke zusammen. Eisige Kälte kriecht durchs Zimmer. Kein Wunder, das Fenster steht ja weit offen.
„Ich habe das Fenster doch nur einen kleinen Spalt auf gelassen, gestern abend, damit der Weihnachtsmann leicht an meinen Wunschzettel herankommt“, denkt Anna laut.
Moment mal. Der Weihnachtsmann? Wie ein Blitz schießt Anna aus dem Bett zum Fenster. Vielleicht sieht sie ihn ja noch am Himmel davon brausen in seinem Schlitten. Doch draußen kratzt nur der dicke Nachbar Linke die Scheibe seines Autos frei. Komischerweise wohnt Nachbar Linke rechts neben ihnen. Früher als Anna und J.A.N. rechts und links noch nicht unterscheiden konnten, hatte Vater immer gesagt: „Rechts ist da, wo der Linke wohnt.“
Dieser Nachbar Linke jedenfalls ist Brötchenminister und in der Hauptsache zuständig für die Frühstücksversorgung der Stadt. Deshalb muss er immer sehr früh raus. Anna winkt ihm zu und schließt das Fenster. Mit dem rechten Fuß tritt sie auf ein Stück Papier. Enttäuscht hebt sie es auf. Es war nur der Wind, oder ein neugieriger Nachtfalter der das Fenster aufgedrückt hatte und nicht der Weihnachtsmann. Denn in den Händen hält Anna ihren Wunschzettel mit dem Bild des Weihnachtshasen.

Seit zehn Minuten sitzt Anna nun schon auf der Rücken der alten Holzkuh auf dem Spielplatz und wartet auf Lukas. Ungeduldig zappelt sie mit den Beinen und guckt alle paar Sekunden hinüber zur Hausecke, um die Lukas jeden Moment biegen müsste.
Der grüne Lukas ist Annas allerbester Freund, schon seit Jahren.
Als Annas Familie damals in die Südstadt zog, fühlte Anna sich sehr einsam. Und an ihren ersten Tag in der Zauberschule erinnerte sie sich noch lange. Die Mutter hatte Anna in den Gruppenraum geschoben und zwölf Kinderaugenpaare starrten sie an, als ob sie einen viereckigen Kopf oder rote Elefantenohren hätte. Anna waren damals die Tränen in die Augen geschossen, sie konnte nur noch verschwommen gucken. Und dann hatten alle sie ausgelacht. Nur einer nicht. Der grüne Lukas. Er kam zu ihr und wischte ihr mit seinem Ärmel über die Augen: „Nun weine mal nicht. Ich zeige dir alles. Und wenn du willst, bin ich dein Freund.“
Anna wollte. Und dieser Lukas ist wirklich der beste Freund, den man sich wünschen kann. Klug und stark und die zuverlässigste Grünhaut auf der Welt.

„Pass bloß auf, dass du nicht festfrierst!“, Lukas Stimme holt Anna aus den Gedanken.
Sie streckt ihm ihren Wunschzettel entgegen: „Schau mal, das ist mein neuer Freund, den wünsche ich mir zu Weihnachten.“
Lukas wird ganz lila im Gesicht: „Bin ich dir nicht mehr gut genug?“
„Natürlich, bist du das. Und außerdem wird mein Hase ja auch dein Freund“, sagt Anna.
„Trotzdem, wieso brauchst du, Annabenitacecilia, noch einen weiteren Freund?“, fragt Lukas eifersüchtig.
Anna legt die Hand auf Lukas Arm: „Aber du kannst ja nicht immer bei mir sein. Und der Hase würde sogar bei mir in meinem Zimmer wohnen.“
Ja eben, denkt Lukas, das ist es ja eben.
„Ich muss los“, Lukas springt von der Bank auf, „ich soll pünktlich zu hause sein. Meine Mutter will heute abend mit den Irrlichtern tanzen.“
Anna begleitet Lukas. Allein langweilt sie sich auf dem Spielplatz, und außerdem frieren ihre Füße. An der Telefonzelle verabschieden sie sich. Lukas muss jetzt 60 Meter nach rechts und Anna 60 Meter geradeaus gehen, dann sind sie zu hause.
Lukas winkt: „Tschüs Anna, bis morgen.“
„Tschüs Lu...“, sagt Anna und bemerkt plötzlich, dass ihr etwas Wichtiges fehlt, „Lukas, hast du meinen Wunschzettel?“
„Nein, den hast du auf die Holzkuh gelegt, als du deine kalten Finger aufwärmen wolltest.“
Lukas und Anna laufen zurück zum Spielplatz. Sie rennen so schnell, dass sie mächtig keuchen, obwohl es gerade mal hundert Meter sind. Doch Annas Wunschzettel liegt nicht mehr auf der Kuh. Auch nicht davor oder darunter. Er ist einfach weg. Anna stehen Tränen in den Augen. Sie will sie verbergen, doch Lukas bemerkt sie wohl.
Er tröstet: „Nun sei mal nicht traurig, den hat bestimmt der Weihnachtsmann geholt.“
Anna schüttelt den Kopf: „Der Weihnachtsmann. Am hellen Tag. Hast du den Weihnachtsmann schon mal bei uns auf dem Spielplatz gesehen?“
Natürlich hat Lukas das nicht.
Am Rande des Spielplatzes finden sie schließlich den Wunschzettel. Der kalte Wind hat ihn mitten in eine große Pfütze gepustet.
Jetzt kullern Anna die Tränen wie Sturzbäche aus den Augen. Das Pfützenwasser hat die Farben gelöst und das Bild ihres Weihnachtshasen in einen schmierigen Klecks verwandelt. Lukas angelt das Blatt aus der Pfütze und wischt es trocken. Doch damit macht er es nur noch schlimmer. Alles verschmiert und man kann gar nichts mehr erkennen.
Anna weint: „Das schöne Bild! Mein lieber Hase!“
Lukas findet alles nicht so schlimm: „Malst du halt einen Neuen.“
„Du hast keine Ahnung“, schluchzt Anna, „ich habe Stunden gebraucht, um den Hasen so zu malen. Und was, wenn der Weihnachtsmann meinen Wunschzettel schon heute Nacht holen will?“
„Kann deine Mutter nicht ein bisschen Feenstaub darüber streuen?“, fragt Lukas.
Anna schüttelt den Kopf: „Die will keinen Hasen.“
Wenn Lukas scharf nachdenkt, wird er hellblau.
Und er leuchtet wie der Himmel an einem schönen Sommertag, als er Anna in den Arm knufft: „Wird schon. Ich lass mir etwas einfallen.“
Anna schluckt die Tränen herunter: „Danke, Lukas.“
Zum Abendbrot bekommt Anna kaum einen Bissen herunter, und später, im Bett, tropfen ab und an noch ein paar Tränen aus ihren Augen aufs Kissen.
Die Tür geht leise auf und Annas Vater fragt: „Mäuschen?“
Sie schluchzt: „Ja.“
„Schön, dass du noch wach bist, ich habe etwas für dich“, Annas Vater setzt sich auf die Bettkante, knipst die Nachttischlampe an und hält ein großes Foto ins Licht. Anna jauchzt vor Freude auf. Das Bild zeigt, wie sie gerade glücklich strahlend ihren Wunschzettel in die Kamera hält. Auf dem Foto, klar und deutlich zu erkennen, ihr Weihnachtshase.