Anna und der Weihnachtshase (Teil 4)

  • regge vom schulzenhof
Eine Adventsgeschichte zum Lesen und Gucken, zum Zuhören und Staunen. Ein Weihnachtsmärchen in 24 Teilen, die die Zeit bis Heiligabend verkürzen soll.
04.12.2014
Roland Regge-Schulz

4. Dezember

Aufgeregt klingelt Anna an Lukas Haustür. Viermal, jedes Mal ein wenig länger, bis endlich die Tür aufgeht.
Der grüne Lukas steckt seinen strubbeligen Kopf heraus und gähnt: „So früh am Morgen, ich bin noch so müde.“
Anna, die kleine Stadtfee schwirrt an Lukas vorbei zur Tür hinein. Er findet dass ganz schön peinlich, weil er gerade aus dem Bett kommt, noch seinen zerknitterten Schlafanzug trägt und nicht mal seine Zähne geputzt hat.
„Guck mal, was ich hier habe“, Anna streckt Lukas das Foto entgegen, das sie gestern Abend von ihrem Vater bekommen hat.
Lukas reibt sich den letzten Schlaf aus den Augen: „Du bist aber auch eine hübsche Fee. Ich dachte immer so hübsche gibt es nur im Wald nicht in der Stadt. Siehst echt klasse aus, auf dem Bild. So ein süßes Lächeln.“
„Du Blödmann, es geht gar nicht um mich. Es geht um meinen Wunschzettel. Sieh nur, mein Weihnachtshase.“
„Ach, ja, auch schön“, Lukas gähnt schon wieder, „tut mir leid, aber ich müsste meine Augen dringend noch ein wenig ausruhen.“
Anna fragt: „Was ist denn los mit dir? Du bist doch sonst nicht so ein Schlafsack.“
Lukas gähnt ein drittes Mal: „Meine Mutter war doch gestern mit den Irrlichtern tanzen.“
Anna lacht: „Und ohne deine Mami konntest du nicht einschlafen.“
„Quatsch“, brummt Lukas, „aber wenn ich schon mal einen freien Abend habe, wollte ich ihn auch so richtig ausnutzen. Erst habe ich so getan, als sei ich todmüde und wolle gleich ins Bett. Und als meine Mutter losgeflogen war, habe ich es mir vor dem Fernseher bequem gemacht. Ich sag dir, da gab es den gruseligsten Film aller Zeiten, nichts für kleine Feen mit schwachen Nerven.“
„Und als deine Mutter nach hause kam, konntest du nicht einschlafen, weil du so gruselige Sachen geguckt hast“, fällt Anna ihm ins Wort.
„So ein Quatsch, dass machte mir gar nichts“, lügt Lukas und gähnt schon wieder.
„Nun wach mal langsam auf“, sagt Anna, „du weißt doch, warum ich gekommen bin?“
Lukas guckt so fragend, dass Anna stöhnt: „Du wolltest dir etwas einfallen lassen, wegen des Weihnachtshasens, weil doch mein Wunschzettel total verschmiert ist.“
„Ach ja, der Hase“, seufzt Lukas, den hatte er total vergessen. Lukas wird wieder hellblau, so fieberhaft denkt er nach. Irgend etwas muss ihm jetzt einfallen. Wenn es darauf ankam, ist ihm bisher immer etwas eingefallen.
Und auch diesmal klappt es mit einer Idee: „Hör zu, Anna. Du brauchst viele Wunschzettel! Die werden wir allen Leute mitgeben, die den Weihnachtsmann noch vor Weihnachten treffen.“
Anna schüttelt den Kopf: „Guter Gedanke, nur nützt er nichts. Ich besitze nicht mal mehr einen Wunschzettel. Der ist doch gestern in der Pfütze gelandet. Ich muss völlig neu malen. Und nicht nur einen, viele. Du hast wirklich keine Ahnung wie schwer sich Hasen malen, und wie lange das dauert?“
Lukas lächelt: „Wir brauchen keinen Wunschzettel, wir kopieren das Foto, das dein Vater dir geschenkt hat. Da bist du auch gleich mit drauf. Und egal von wem der Weihnachtsmann das Bild bekommt, er weiß sofort, welche Anna sich den Hasen wünscht. Nicht, dass er extra einen Hasen besorgt und ihn dann jemand anderem schenkt.“
Anna lacht begeistert: „Ja, wir brauchen Kopien, viele Kopien! ...Aber, Lukas, ich kann noch nicht kopieren. Das haben wir in der Zauberschule noch nicht gelernt. Kannst du das denn?“
Lukas grinst: „Nein, aber ich weiß, wo es eine Maschine dafür gibt.“

Lukas Mutter und Annas Vater arbeiten zu verrückten Zeiten. Er fotografiert, und sie macht für jeden der will Werbung. Manchmal sieht Lukas seine Mutter nicht mal am Wochenende, weil sie gerade an einem großen Auftrag arbeitet. Und dann holt sie ihn tagelang mittags von der Schule ab und fliegt mit ihm Eis essen, ins Schwimmbad oder ins Kino. Heute arbeitet sie, freut sich aber, als Lukas mit Anna auftaucht: „Nanu, was verschafft mir denn Ehre eines solch lieben Besuches?“
Lukas guckt möglichst unschuldig: „Ach, die Anna glaubt mir nicht, dass Du in Deinem Büro einen vollautomatischen Gummibaumgießzwerg besitzt, und den will ich ihr zeigen.“
Lukas Mutter lacht: „Na, da hast du aber Pech gehabt. Der hat frei. Sein Bruder feiert eine Riesenhochzeit. Klingt komisch bei einem Zwerg, nicht wahr?  Wollt ihr etwas trinken?“
Darauf hat Lukas nur gewartet: „Einen Erdbeermilch-Kakao hätte ich gern. Draußen pfeift ein eisiger Wind, und ich bin richtig durchgefroren.“
Dann stößt er Anna an.
„Ich, ich auch bitte“, sagt Anna hastig.
Lukas Mutter lächelt und hebt den Zeigefinger: „Kleinen Moment Geduld bitte, ihr beiden. Und Lukas, du weißt Bescheid, nichts anfassen.“
Kaum fällt die Tür ins Schloss, zieht Lukas das Foto von Anna mit ihrem Wunschzettel aus der Tasche und legt es blitzschnell auf die Kopiermaschine. Lukas kennt sich bei seiner Mutter im Büro aus und durfte auch schon mal etwas für die Schule kopieren. Er hat sich genau gemerkt, wie das Gerät funktioniert. Und bevor seine Mutter mit den dampfenden Tassen wieder hereinkommt, stecken zehn Kopien in seiner Tasche. Mit Unschuldsmienen schlürfen Anna und Lukas ihren Kakao und loben überschwänglich den Erdbeer-Geschmack. Und dann haben sie es sehr eilig.
Anna will nach hause. Sie muss überlegen, wem sie eine Kopie für den Weihnachtsmann mitgeben will.
An der Telefonzelle verabschiedet sie sich von Lukas.
„Du bist großartig“, flüstert sie ihm ins Ohr, und dann gibt sie ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Lukas läuft rot an. Hoffentlich beobachtet sie keiner, denn dass wäre ihm nun wirklich furchtbar peinlich.

Eine halbe Stunde lang verteilt Anna überall in ihrem Zimmer die Kopien. Die Bilder mit ihr und dem Weihnachtshasen auf dem Wunschzettel lächeln vom Bett, vom Schreibtisch, vom Stuhl und von den Wänden auf sie herab. Anna sitzt auf dem Teppich und kaut auf einem Bleistift herum. Wem bloß soll sie einen Wunschzettel geben? Einer jedenfalls bleibt am Fenster, falls der Weihnachtsmann in der Nacht vorbei schaut. Den zweiten bekommt der Nikolaus und den dritten...

Zur gleichen Zeit liegt Lukas schon träumend im Bett. Er muss noch eine Menge Schlaf nachholen von letzter Nacht. Über ihm, an der Wand, hängt die zehnte Kopie. Heimlich hatte er sie eingesteckt. Annas Lächeln auf dem Foto gefällt ihm einfach zu gut.