Anna und der Weihnachtshase (Teil 6)

  • regge vom schulzenhof
Eine Adventsgeschichte zum Lesen und Gucken, zum Zuhören und Staunen. Ein Weihnachtsmärchen in 24 Teilen, die die Zeit bis Heiligabend verkürzen sollen.
06.12.2014
Roland Regge-Schulz

6. Dezember

Eine Stunde nach Mitternacht, reißt lautes Scheppern Anna aus dem Schlaf. Erschrocken reibt sie sich die Augen. Wer macht denn um diese Zeit so einen furchtbaren Krach? Sie knipst die kleine Leselampe an. Vor ihrem Bett steht eine große Blechschüssel und darin liegt ein Schlüsselbund. Darüber, an der Kante des Nachtschränkchens, tickt der große, schwere Wecker. Anna schläft normalerweise tief und fest. Aber jetzt ist sie hellwach. Sie selbst war es, die den Wecker auf ein Uhr stellte, dann vorsichtig das Schlüsselbund darauf legte und die Schüssel vor das Bett stellte. Als der Wecker klingelnd vibrierte, fielen die Schlüssel scheppernd in die Schüssel.
Es ist die Nacht des Nikolauses, in der er von Haus zu Haus geht und Kleinigkeiten in geputzte Schuhe steckt.
„Was soll denn hier dieser Krach?“, Annas Mutter steht in der Tür und reibt sich schlaftrunken die Augen.
„Ach, nichts“, sagt Anna, „nur mein Schlüsselbund. Ich habe es wohl im Schlaf heruntergestoßen.“
„Ach, und ausgerechnet in die Schüssel?“, fragt die Mutter denkbar schlecht gelaunt. „Was sucht die Schüssel überhaupt in deinem Zimmer und das schmutzige Schlüsselbund gehört auch nicht ins Bett.“
Anna sammelt Schlüssel und das Bund ist ihr ganzer Stolz. Wenn irgendwo ein Schloss kaputt geht, erbettelt sie sich die nun nutzlosen Schlüssel. Ein paar hat sie gefunden. Und andere wiederum hatte sie geschenkt bekommen. Inzwischen klappern schon 18 Schlüssel an ihrem Bund. Und von wegen dreckig. Anna spielt so viel damit herum, dass die Schlüssel alle blitzblank glänzen.
Aber nichts davon sagt sie, sie will sich jetzt auf gar keinen Fall mit ihrer Mutter streiten.
Sie senkt die Augen und flüstert: „Entschuldige Mama, wird nicht mehr vorkommen. Und morgen räume ich mein Zimmer auf. Ganz bestimmt.“
„Schon gut“, sanft streicht ihr die Mutter übers Haar, „war nicht böse gemeint. Ich habe mich nur so erschrocken. Ich dachte schon an Einbrecher oder ein Erdbeben.“
„Gute Nacht, Mama“, sagt Anna.
„Schlaf weiter mein Kind“, leise schließt die Mutter die Tür.
Anna liegt noch fünf Minuten mucksmäuschenstill im Bett. Dann zieht sie sich leise an. Am Abend hatte sie extra ihre Sachen fein säuberlich auf den Stuhl gelegt. Das war gegen ihre Gewohnheit, aber sie wollte auf keinen Fall mitten in der Nacht Strümpfe oder Hemdchen suchen. Beim Anziehen lässt Anna sich viel Zeit, schließlich muss ihre Mutter erst wieder einschlafen. Sie würde auf keinen Fall erlauben, was Anna vorhat.
Zehn Minuten später steckt Anna den Kopf aus der Tür und lauscht. Alles ruhig. Nur den Vater hört sie leise schnarchen. Anna nimmt ihre Bettdecke unter den Arm und schleicht zur Haustür. Sicherheitshalber schaut sie noch einmal nach draußen. Alles in Ordnung, der Nikolaus war noch nicht da, der Brief für den Weihnachtsmann steckt noch im Schuh. Alles noch wie am Abend, als sie schlafen ging. Nur, dass jetzt neben ihren Schuhen noch die geputzten Paare von J.A.N., und ihren Eltern stehen. Leise schließt Anna die Tür, setzt sich auf die Fußmatte, wickelt sich warm in ihre Decke, und lehnt den Kopf gegen das Holz. So hört sie jedes Geräusch vor der Tür.
Heute Nacht will Anna auf den Nikolaus warten. Und wenn sie ihm persönlich ihren Wunschzettel für den Weihnachtsmann übergibt, kann nichts mehr schief gehen.

Und dann fallen Anna doch die Augen zu. „Nikolaus, oh Nikolaus“, denkt sie.
Gerade bedankt sich bei ihm und winkt ihm fröhlich hinterher, als ihr Traum in einem schrillen Kreischen endet. Annas Bruder J.A.N. schreit: „Was machst du denn hier? Ich wollte doch der erste sein.“
Anna reibt sich die Augen. Sie hockt immer noch an der Haustür und ihr linker Fuß kribbelt unangenehm. Sie war eingeschlafen und hat die Begegnung mit dem Nikolaus nur geträumt. Schnell springt sie auf und humpelt ein paar Schritte durch den Flur. Der Fuß kribbelt aber auch wie verrückt.
„Oh, stark!“, J.A.N. steht inzwischen draußen und bewundert die prall gefüllten Schuhe.
Anna schaut auf ihr Paar. Die vielen leckeren Sachen und ein kleines Zauberbüchlein passen kaum hinein. Aber das Wichtigste: Der Wunschzettel ist weg. Anna fällt ein Stein vom Herzen. Auf den Nikolaus kann sie sich doch verlassen.
Oder?

Im Laufe des Tages kommen Anna die ersten Zweifel. Wie jeder weiß, bringen Nikolaus und Weihnachtsmann nur lieben Kindern etwas. Also nach Annas Meinung dürfte bei ihrem Bruder J.A.N., diesem Faulpelz, höchstens ein Schuh gefüllt sein. In den anderen gehört eine Rute. Statt dessen waren beide Schuhe gut gefüllt.
Noch schlimmer werden die Zweifel an der Bushaltestelle. Hier treffen sich die Kinder des Viertels bei schlechtem Wetter. Hier haben sie ein Dach über dem Kopf und Schutz vor dem kalten Wind. Und heute gibt es nur ein Thema: Nikolaus. Heute geben alle mit dem Inhalt ihrer Schuhe an. Anna selbstverständlich auch. Aber am allerschlimmsten prahlt Erik, dieser dicke, fette Zwergriese.
Ärgerlich genug, dass schon bei der faulen Silvia mehr Marzipan in den Schuhen steckt als bei Anna. Unverständlich und ungerecht aber findet sie die Füllung von Eriks Stiefeln. Der ist so faul, gegen den ist sogar Silvia eine fleißige Biene. Und nun hatte der dicke Erik nicht mal zum Nikolaustag seine Schuhe geputzt. Voller Gier hatte er sich die riesigen Filzstiefel von seinem Opa geborgt und von seiner Oma noch drei Nummern größer hexen lassen. Die hat er vor die Tür gestellt, staubig wie sie waren. Doch statt dafür eine Rute zu bekommen, waren beide Stiefel voll gefüllt bis oben hin. Und nicht etwa nur mit Süßigkeiten. Nein, zwei kleine Autos, ein Miniradio und eine Uhr mit zwölf Funktionen steckten auch noch drin. Das findet Anna ungerecht. So sehr sie sich auch Mühe gibt. Ihr fällt nichts ein, womit sich Erik so viele schöne Sachen verdient hätte.
Anna konnte doch nicht wissen, dass der Nikolaus tatsächlich nur eine Rute hineingesteckt hatte, und dass Eriks Eltern ihrem Liebling die ungeputzten Stiefel gefüllt hatten.
Nicht dass jetzt jemand falsch über Anna denkt. Sie ist keineswegs neidisch. Sie sorgt sich nur sehr um ihren Wunschzettel. Wird ihn der Weihnachtsmann wirklich bekommen? Kann sie sich auf den Nikolaus verlassen? Auf den Nikolaus, von dem sie glaubt, dass er schon beim Füllen der Schuhe so ungerecht vorgeht und sogar dem dicken, faulen Erik fremde, dreckige Stiefel prall füllt.
Darüber denkt Anna am Abend lange nach. Und obwohl sie sehr müde ist, dauert es eine Zeit, bis sie endlich einschlafen kann.