Anna und der Weihnachtshase (Teil 7)

  • regge vom schulzenhof
Eine Adventsgeschichte zum Lesen und Gucken, zum Zuhören und Staunen. Ein Weihnachtsmärchen in 24 Teilen, die die Zeit bis Heiligabend verkürzen soll.
07.12.2014
Roland Regge-Schulz

7. Dezember

Anna ärgert sich immer noch über den Nikolaus. Wie konnte der gestern seine Geschenke nur so ungerecht in den Schuhen verteilen? Wie konnte es passieren, dass ausgerechnet Erik, der faulste Kerl weit und breit, die meisten Gaben in die Stiefel bekam. Nein, auf den Nikolaus will Anna sich nicht verlassen, sie weiß ja nicht, dass die Sachen in Eriks Stiefeln nicht vom Nikolaus, sondern von dessen Eltern stammen. 
Und dann ärgert sich Anna noch über sich selbst. In der ganzen Aufregung gestern, hat sie doch tatsächlich den grünen Lukas vergessen. Ihr bester Freund sitzt im Hausarrest, wegen der Blätter, die er für Anna heimlich kopiert hatte. Und sie hat ihn noch nicht einmal besucht.
Lange und prüfend schaut Anna sich die Süßigkeiten an, die übrig geblieben sind von ihren Nikolaus-Geschenken.
Fünf Kaugummitaler, ein Marzipanbrötchen, ein kleiner und ein großer Schneemann aus Schokolade, eine Tüte Gummischlangen und zwei Nougat-Stangen.
„Schenke ich Lukas den großen Schneemann oder das Marzipanbrötchen?“, grübelt Anna laut. Sie steckt beides ein. Anna drückt das schlechte Gewissen. Sie zieht Mantel und Stiefel an, bindet sich einen Schal um und ruft: „Tschüs, Papa und Tschüs, Mama“, dann fällt die Haustür hinter ihr ins Schloss.
Es kracht und klirrt ohrenbetäubend.
Erschrocken schlägt sie sich die Hand vor den Mund. Schon wird die Tür hinter ihr wieder aufgerissen, der Vater steckt seinen Kopf heraus und ruft: „Sag mal, bist du noch ganz bei Trost, du kannst doch die Tür nicht so...“
Mitten im Satz sagt er gar nichts mehr. Mit offenem Mund und großen Augen starrt er nach vorn zur Straßenecke, an der die Telefonzelle verschwunden ist. Statt dessen steht dort der Bäckerwagen von Nachbar Linke, dem Brötchenminister, vorn rechts total verbeult. Eine dicke Rauchwolke quillt unter der Motorhaube hervor. Bäcker Linke steigt aus und schüttelt den Kopf.
Mitten auf der Straße steht Annas kleiner Bruder J.A.N. mit kreidebleichem Gesicht.
„J.A.N.!“, schreit Annas Vater und rennt los.
„J.A.N.!“, schreit Anna und läuft ihrem Vater hinterher, so schnell sie kann und es ihre Stiefel zulassen.
Der Vater nimmt den kleinen J.A.N.auf den Arm und drückt ihn an sich. Anna kuschelt sich an die beiden und spürt durch ihre dicke Jacke hindurch, wie J.A.N. am ganzen Körper zittert .
Eine Frauenstimme kreischt: „Ottooooo!!!!“
Otto steht einen halben Meter neben dem Bäckerauto, genauso blass wie Jan. In der rechten Hand hält er einen Telefonhörer, von dem die abgerissene Strippe nutzlos herunter baumelt.
Otto heißt mit vollem Namen Otto Graf, er ist ein Riesentroll im Ruhestand und die gute Seele der Südstadt. Früher hat er mit Riesen gerungen und als Baum-Meister  im Märchenwald gearbeitet, aber seit er im Ruhestand ist, repariert, flickt und hilft er, wo er nur kann. Die Leute behaupten, er besitze goldene Hände. Anna weiß es aber besser. Sie hat genau hin geguckt, als Otto Graf im Sommer ihr Fahrrad reparierte. Es sind ganz normale Hände, nur breiter und kräftiger als die anderer Trolle. Jetzt drücken diese großen Hände Frau Zwölfe Graf an Ottos breite Brust. Früher war Ottos Frau eine Elfe, sie ist gemeinsam mit ihrem Otto alt geworden und schon seit Jahren eine Zwölfe.
Und sie beruhigt sich immer noch nicht, nur schreit sie nicht mehr sondern flüstert: „Otto, oh, Otto, oh.“
Wer genau hinsieht, bemerkt wie die sonst so ruhigen Hände von Otto Graf zittern.
Nur einer freut sich. Mitten im Chaos tobt Bollo, der Schweinehund von Bäcker Linke, um sein Herrchen herum und ringelt wie verrückt sein Schwänzchen.
„Er ist mir plötzlich weg gerannt“, schnieft der kleine J.A.N., „dann kam das Bäckerauto und ich wollte ihn retten.“
Den Rest reimt sich Anna selbst zusammen.
J.A.N. geht oft mit dem Schweinehund vom Brötchenminister Gassi. Der Herr Linke muss morgens arbeiten und freut sich, dass J.A.N. sich um Bollo kümmert. Und Jan freut sich, dass er vom Minister immer ein Stück Kuchen extra bekommt.
Heute morgen hatte Bollo sein Herrchen kommen sehen, und war los geflitzt. J.A.N. hatte nicht aufgepasst und ist dem Hund hinterher gerannt. Mitten auf die Straße. Und dem Minister in seinem Auto blieb die Wahl. Entweder überfährt er J.A.N., oder er reißt das Lenkrad herum und kracht in die Telefonzelle. Die benutzt normalerweise keiner mehr. Höchstens der alte Duffke, der pinkelt da manchmal rein, wenn er nachts aus der Kneipe kommt.
Ausgerechnet heute aber war das Telefon von Familie Graf kaputt gegangen, und Otto musste dringend seinen Bruder anrufen. In der Zelle hatte es so erbärmlich gestunken, dass Otto nur schnell die Nummer gewählt und sich dann soweit herausgestellt hatte, wie die Hörerstrippenlänge es erlaubte.
Zu seinem Glück war sie lang genug, sonst läge er jetzt mit der alten Telefonzelle im Vorgarten des Eckhauses.
Wenn man es richtig betrachtet, hat der alte Duffke Otto Graf das Leben gerettet. Hätte er nicht in die Zelle gepinkelt, dann hätte es nicht so gestunken und dann hätte sich Otto Graf nicht nach draußen gestellt.
Inzwischen herrscht an der Straßenecke ein Gedränge wie beim Volksfest. Die Neugier hat fast alle Nachbarn aus den Häusern geholt. Zwischendrin suchen Polizisten händeringend nach Augenzeugen. Ein Krankengleiter kommt und schwebt gleich wieder ab. Zum Glück braucht hier keiner einen Arzt.
Bäcker Linke umarmt erst den kleinen J.A.N., anschließend Otto Graf. Beiden flüstert er etwas ins Ohr. Beide nicken und dann rufen alle drei gemeinsam: „Wir hatten so viel Glück, lasst uns feiern!“
Das verbeulte Bäckerauto wird geöffnet und Unmengen an Kuchen und Torten heraus geholt. Die haben zwar durch den Unfall die Form aber keineswegs ihren Geschmack verloren. In den umliegenden Häusern kochen die Frauen literweise Kaffee, und die Männer schleppen Tische und Stühle hinaus. Und dann beginnt das spontanste und gleichzeitig größte und lustigste Straßenfest, dass jemals in der Südstadt gefeiert wurde.
Nur zwei feiern nicht mit. Anna und der grüne Lukas.

Still greift sich Anna ein paar Stückchen Kuchen und schleicht heimlich davon. Und während auf der Straße die Menschen um das verbeulte Bäckerauto tanzen, stopft Lukas sich in seinem Zimmer ein Kuchenstück nach dem anderen hinein und hört mit großen Augen zu, was Anna ihm erzählt, über den ungerechten Nikolaus, über ihren unvorsichtigen Bruder J.A.N. und das größte Straßenfest aller Zeiten.
Nur eines hat Anna heute völlig vergessen. Bei der Aufregung hat sie den ganzen Tag nicht einmal an ihren Weihnachtshasen gedacht.