Anna und der Weihnachtshase (Teil 8)

  • regge vom schulzenhof
Eine Adventsgeschichte zum Lesen und Gucken, zum Zuhören und Staunen. Ein Weihnachtsmärchen in 24 Teilen, die die Zeit bis Heiligabend verkürzen soll.
08.12.2014
Roland Regge-Schulz

8. Dezember

An der Ecke stehen zwei Arbeitsmänner in blauen Overalls unter dicken, grauen Wattejacken.
„Die kommt weg, die lohnt den Aufwand nicht mehr“, sagt der große, kräftige zu seinem kleinen, schmächtigen Kollegen. Anna traut ihren Ohren nicht. Gerade hatte sie noch gute Laune, wollte ihren Freund Lukas abholen, dessen Hausarrest endlich vorbei ist, und nun wollen die Arbeiter die Telefonzelle wegnehmen. Ihre Telefonzelle. So lange sie sich erinnert, steht die Telefonzelle vor dem Eckhaus an der Kreuzung. Besser gesagt, sie stand dort, bis sie gestern vom Brötchenminister umgefahren wurde. Nun liegt sie im Vorgarten. Anna zupft dem großen Arbeitsmann an der Jacke: „Sie können uns doch nicht einfach das Häuschen wegnehmen, hören sie.“
Der große, dicke Arbeitsmann guckt erstaunt noch unten: „Doch, kleine Fee, dass müssen wir sogar. So liegen kann sie ja nicht bleiben und eine Reparatur würde zu viel kosten."
Anna lässt nicht locker: „Ja, aber wenn mal jemand telefonieren muss?“
„Ach Kindchen“, seufzt der kleine, dünne Arbeitsmann, zieht ein Blatt Papier aus der Tasche und faltet es auseinander, „hier, auf dieser Liste, steht es schwarz auf weiß: Aus dieser Zelle wurde im letzten Monat nur dreimal und im Monat davor nur fünfmal ferngesprochen. Das lohnt sich nun wirklich nicht.“
Anna gibt immer noch nicht auf: „Ja, aber wenn die Zelle noch stehen würde?“
„Dann bliebe sie auch stehen“, lacht der große Arbeitsmann. „Weißt du, Abreißen macht auch Mühe. Aber hier hat das ja schon ein anderer für uns erledigt.“
Meckernd fällt der kleine Arbeitsmann in das Lachen mit ein. Dann zieht er den großen am Ärmel: „Nun komm schon. Hier können wir heute nichts mehr machen. Morgen kommen wir mit Lastwagen und Kran und holen die Zelle ab.“
Winkend klettern die beiden Arbeiter in ihren Transporter und fahren davon.
Wütend steckt Anna ihre Fäuste in die vollen Manteltaschen. In der rechten Tasche steckt immer noch das Marzipanbrötchen, inzwischen arg verformt, und aus der linken holt Anna die Überreste des großen Schokoladen-Schneemanns. Beides sollten eigentlich Geschenke für Lukas sein. Vergessen und zermatscht. Anna stopft alles zurück in die Manteltaschen und rennt los.
Lukas hört sie schon von weitem rufen: „Lukas, Lukas, wir müssen die Telefonzelle retten.“
Er schüttelt verständnislos den Kopf: „Wieso Telefonzelle, ich denke wir wollen uns um deinen Weihnachtshasen kümmern?“
Anna winkt ab: „Für den findet sich auch noch Zeit. Aber erst müssen wir die Telefonzelle retten.“

Minuten später rennen die Beiden aufgeregt durch das Viertel. Sie klingeln bei Otto Graf, beim Brötchenminister Linke und holen schließlich noch Annas Vater heraus.
Dann stehen sie zu fünft am Eckhaus und starren auf die umgekippte Telefonzelle.
Annas Vater schaut auf seine weißen, dünnen Finger und stöhnt: „Das schaffen wir nie.“
Minister Linke wischt sich den Schlaf aus den Augen und sagt: „Wir sollten es wenigstens versuchen.“
Und Otto Graf reibt sich seine kräftigen, schwieligen Pranken, dass die Gelenke knacken, und ruft: „Kein Problem, die kriegen wir wieder hin.“
Und ehe noch einer etwas einwenden kann, hält Otto Graf schon Zettel und Stift in den Händen und notiert: „Wir brauchen ein zehn Meter langes, kräftiges Seil.“
„Hab ich“, ruft Annas Vater.
„Gut“, sagt Otto Graf, „weiter brauchen wir Farbe, Pinsel, Hammer...“
Es folgt eine längere Aufzählung.
Lukas und Anna hüpfen aufgeregt herum und stören damit mehr, als sie helfen. Deshalb schickt sie Otto Graf mit Annas Vater zur Bauversorgung, Bolzen, Lack und noch ein paar Kleinigkeiten holen. Und während die drei durch die unendlichen Regalreihen des Marktes irren, erzittert das Wohnviertel vom Lärm des Bohrhammers, mit dem Otto Graf neue Löcher für die Befestigungsbolzen in das alte Fundament der Telefonzelle bohrt.
Es dauert nicht lange, da kommen schon die ersten Anwohner aus ihren Häusern gelaufen. Voller Wut, wegen des Krachs. Über den Lärm hinweg brüllt der Brötchenminister Linke. Wild gestikulierend will er erklären. Er schafft es nicht. Da stellt Otto Graf die Maschine aus. Zu spät. Linke kann inzwischen nur noch heiser flüstern. Otto Graf aber, der Riesentroll hält nichts von großen Reden. Er brummt nur kurz und knapp: „Wenn die Zelle heute nicht wieder steht, wird sie morgen abgeholt. Punkt.“
Ohne ein weiteres Wort stellt er den Bohrhammer wieder an. Aber die Anwohner haben ihn verstanden. Kein Wort mehr der Beschwerde. Im Gegenteil. Sie gehen auch nicht nach Hause, sie packen alle mit an. Eigentlich wollte Otto mit dem langen Seil und dem Bäckerauto die Telefonzelle wieder aufrichten. Doch das Auto brauchen sie gar nicht mehr. Inzwischen helfen soviel starke Arme und Hände, alles wieder an den rechten Platz zu rücken.
Anna, längst aus dem Baumarkt zurück, kann sich vor Freude kaum halten. Selbst der alte Zoffke hilft mit. Dieser griegrämige Stänkerheini, dem nichts und niemand etwas recht machen kann und den keiner hier im Viertel leiden kann, harkt im Vorgarten die Glassplitter zusammen.
Als es dämmert, funkelt die alte Telefonzelle im Schein der Straßenlaternen als wäre sie nagelneu. Nur wenn man ganz genau hinschaut, erkennt man noch die Stellen, die gerade ausgebeult worden sind. Sogar der abgerissene Telefonhörer wurde wieder fachmännisch montiert. Allerdings ist die Schnur jetzt etwas kürzer.
Stolz stehen Anna und Lukas an der Straßenecke. Sie haben ihre Zelle gerettet.
„Wäre ja auch blöd“, flüstert Lukas, „wenn wir uns nicht mehr an der Telefonzelle treffen könnten, sondern nur an der Stelle, wo die Telefonzelle mal war.“
Anna lacht und dann wird sie ein bisschen traurig: „Du, Lukas, ich muss unbedingt den Weihnachtsmann erreichen, sonst wird das nichts, mit meinem Hasen.“
„Ich helf dir“, sagt Lukas,“aber jetzt muss ich nach hause, sonst bekomme ich wieder Ärger. Ich lass mir was einfallen. Morgen habe ich wieder eine Idee.“
„Oh, danke Lukas“, Anna hüpft vor Vorfreude, „Tschüs, bis morgen.“
Lukas winkt, während er schon losläuft: „Gute Nacht, bis morgen.“