Anna und der Weihnachtshase (Teil 9)
9. Dezember
Wie jeden Morgen sieht Anna auch heute als erstes nach, ob denn der Weihnachtsmann vielleicht doch in der Nacht den kleinen, offenen Fensterspalt genutzt und sich ihren Weihnachtswunschzettel geholt hat. Wie jeden Morgen wird Anna enttäuscht. Mitten auf der Scheibe klebt immer noch unübersehbar das Bild von ihr mit ihrem Weihnachtswunschhasen.
„So kann es nicht weitergehen“, sagt Anna laut. Sie führt immer Selbstgespräche, wenn sie wichtige Sachen für sich klärt. Gedanken sind schnell, die purzeln oft durcheinander. Aber Worte, die müssen durch den Mund. Eines nach dem anderen. Und wenn man sich selber gut zuhört, kommen einem die besten Ideen.
Anna wandert redend durch ihr Zimmer: „Annabenitacecilia vom roten Haus, du musst unbedingt den Weihnachtsmann erreichen. Du möchtest doch so gern einen kleinen Hasenfreund haben, der dir immer zuhört, dann muss du auch keine Selbstgespräche mehr führen. Normalerweise brauchen wir Kinder nur einen Wunschzettel malen, den geben wir den Eltern und die geben ihn irgendwann dem Weihnachtsmann. Natürlich alles heimlich, schließlich soll es am Ende eine Überraschung werden. Aber auf Mama und Papa darfst du dich diesmal nicht verlassen. Die wollen keinen Hasen im roten Haus. Die erzählen dem Weihnachtsmann bestimmt nur von den Schlittschuhen. Die wünscht du dir auch, aber nicht so sehr wie einen Hasen. Das alles musst du dem Weihnachtsmann selber sagen, bloß, wo findest du ihn?"
Als die Mutter ihren Kopf ins Zimmer steckt, fällt Anna das Versprechen ihres besten Freundes ein und sie schlägt sich an die Stirn und ruft: „Lukas!“
„Nein, ich bin es, Mama“, kommt es von der Tür zurück und, „sag mal, mit wem redest du da?“
„Ach, mit niemandem“, erwidert Anna und wird rot. Muss ja niemand wissen, dass sie Selbstgespräche führt.
Anna beeilt sich an diesem Morgen besonders. Beeilt sich beim Zähne putzen, beeilt sich beim Anziehen und beeilt sich beim Frühstück. Sie will zu ihrem besten Freund, dem grünen Lukas und freut sich auf die Idee, die er ihr gestern versprochen hat.
Lukas wartet schon auf sie. Auf seinem Schreibtisch liegen Zettel, Stifte und ein Briefumschlag bereit.
„Du musst dem Weihnachtsmann einen Brief schreiben“, sagt Lukas und rückt Anna einen Stuhl an den Tisch.
Anna fragt verwundert: „Du meinst einfach so einen Brief schreiben? Mit der Post?“
„Ja, klar.“
Anna staunt: "Darauf hätte ich auch allein kommen können."
„Bist du aber nicht“, sagt Lukas, „nun los, mach schon.“
Und Anna schreibt dem Weihnachtsmann einen langen Brief. Sie schreibt von den Gesprächen, die sie mit sich selbst führt und lieber mit einem stillen Vertrauten führen möchte. Sie schreibt von Lukas, der immer ihr allerbester Freund bleiben wird, von den Schlittschuhen, die sie gern hätte, sich aber trotzdem nicht mehr wünscht. Und sie schreibt sehr viel über den kleinen weißen Weihnachtshasen.
Anna beugt sich beim Schreiben tief über den Tisch und deckt das Papier mit der linken Hand ab. Lukas darf nicht mitlesen. Er schmollt ein wenig. Schließlich kam die Idee mit dem Brief von ihm und eigentlich haben sie keine Geheimnisse voreinander.
Anna setzt den letzten Punkt, faltet den Brief schnell zusammen und will ihn gerade in den Umschlag stecken, da bemerkt sie Lukas gekränkten Blick.
„Lies ruhig“, sagt sie und schiebt ihm den Brief über den Tisch.
„Bist du sicher?“, Lukas zögert, traut sich nicht.
Anna nickt: „Ganz sicher.“
Lukas strahlt und schiebt Anna ein Stück Papier über den Tisch, einen Artikel, den er gestern Abend aus der Zeitung ausgeschnitten hat. Auf einem Foto sortiert ein Weihnachtsmann Berge von Briefen. Unter der Überschrift „Hochsaison im Weihnachtspostamt“ steht ein kurzer Text in dem Lukas mit rotem Filzstift drei Zeilen rot unterstrichen hat:
An den Weihnachtsmann
Weihnachtspostamt
16798 Himmelpforten
„Die Adresse. Hier steht die Adresse vom Weihnachtsmann. Lukas, du bist ein Schatz“, jubelt Anna. Lukas bekommt einen roten Kopf. Schnell steckt er den Brief in den Umschlag und schiebt ihn zu Anna: „Nun beeile dich mal. Die Post schließt gleich.“
Anna schreibt mit großen Buchstaben die Anschrift des Weihnachtsmannes und mit kleinen Buchstaben ihre Anschrift als Absender auf den Umschlag. Schließlich soll der Weihnachtsmann ja wissen, wer ihm diesen Brief geschrieben hat. Dann steckt sie noch eine der Kopien des Fotos von sich mit dem von ihr gemalten Hasen hinein und klebt den Brief fest zu.
Lukas wartet schon an der Tür.
Anna sagt: „Moment mal, die Briefmarke fehlt.“
„Dann kaufen wir eben eine.“
„Ich habe kein Geld“, seufzt Anna und Tränen der Enttäuschung sammeln sich in ihren Augenwinkeln.
Lukas zieht kurz entschlossen sein Brieftaubenalbum aus dem Regal und zupft ein große bunte Sondermarke heraus.
„Aber, du kannst doch nicht, deine schöne Sammlung“, stottert Anna, da leckt Lukas die Taube schon an und klebt sie auf den Brief. Anna würde ihm am liebsten um den Hals fallen. Aber Lukas zieht sie schnell aus der Tür.
Die Poststelle befindet sich in einem kleinen Laden, in dem man auch Räucherstäbchen, Bonbons und Zauberwasser kaufen oder Lotto spielen kann. Gerade will die Ladenbesitzerin, die alte Christel, die Eingangstür abschließen, als die Kinder heranstürmen.
„Frau Möller, wir müssen noch einen wichtigen Brief abschicken.“
„So, so,“ sagt die Christel und wirft einen Blick auf den Umschlag, „an den Weihnachtsmann also, ja so ein Brief ist wirklich wichtig. Ich kümmere mich sofort um ihn. Ach und eine Taube ist auch schon aufgeklebt. Ja, dann wollen wir ihn mal gleich abschicken.“ Frau Christel hängt der Taube einen kleinen Stempel um den Hals und öffnet das blaue Fenster für die Luftpost.
Und dann drückt sie Anna und Lukas jeweils einen großen bunten Lolli in die Hand.
Einfach so.