„Ein ganzes halbes Jahr“ voller Emotionen

Hinreißend. Fesselnd. Anrührend. Traurig. Klug. Bissig. Anmaßend. Grausam. Auf die Geschichte über Lou und Will treffen viele Assoziationen zu. Nur eine nicht: langweilig. Unser Buchtipp des Monats: „Ein ganzes halbes Jahr“ von Jojo Moyes. Teil 2 unserer Literaturbetrachtung zur Leipziger Buchmesse.
15.03.2014
dieschweriner

Louisa wohnt in einem übersichtlichen englischen Städtchen, dessen ganzer Stolz und Touristenmagnet eine Burg ist. Lou, wie sie alle nennen, hat nicht gerade den Jackpot des Lebens geknackt: Sie nächtigt in einer besseren Abstellkammer im Haus ihrer Eltern, ist mit dem gutmütigen, jedoch auch bindungszögerlichen und fitnessbesessenen Patrick zusammen. Zudem hat sie gerade ihren Job als Serviererin in einem Café verloren. Der Besitzer muss zurück nach Australien, um in der Nähe seines kranken Vaters sein zu können. Für Lou hingegen muss eine neue Arbeit her.

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Die Angebote des Jobcenters, sich als Pole-Dancerin, bei einer Sex-Hotline oder im Burger-Imbiss zu verdingen, entsprechen nicht so ganz Lous Vorstellungen von ihrer beruflichen Zukunft. Nach einigem Hin und Her, Zögern und Zaudern nimmt Lou schließlich eine befristete Stelle als Gesellschafterin bei der wohlhabenden Familie Treynor an. Ein halbes Jahr soll sie sich um deren erwachsenen Sohn Will kümmern.

Will ist ein smarter, schlagfertiger und welterfahrener Beau, der weiß, wie sich ein freies, pralles Leben voller Annehmlichkeiten anfühlt. Doch an einem dieser von Mühsal und Geldsorgen unberührten Tage war er zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort:  Ein heranrasender Motorradfahrer schleuderte Will von einer Sekunde zur nächsten aus seinem in jeder Hinsicht komfortablen Leben in eine albtraumhafte Existenz. Seit dem Unfall ist Will vom Hals abwärts gelähmt. Für jede Kleinigkeit muss er um Hilfe bitten.

Statt aus rauschenden Festen und wilden Abenteuern bestehen seine Tage und Nächte nun aus Medikamentencocktails, der Abwehr von (Selbst-) Mitleid und Menschen sowie dem Versuch, in seinem körperlichen Gefängnis Haltung und Würde zu bewahren. Sein letztes großes Ziel ist es, eine Sterbehilfeeinrichtung aufzusuchen.

Das ist in Wills Zustand jedoch leichter gesagt als getan. Er hat zwar mit der Welt abgeschlossen, sie jedoch nicht mit ihm: Wills Eltern und seine Schwester haben ihm unter Aufbietung all ihrer Kräfte ein halbes Jahr abringen können. Ein halbes Jahr, in dem er es sich noch einmal überlegen möge. Ein ganzes halbes Jahr, in dem Louisa ihn begleiten und umstimmen soll.

Was wäre, wenn...?

Was folgt, ist eine intelligente, fein beobachtete und tragikomische Parabel  darüber, unter welchen Bedingungen ein Leben als sinnvoll erlebt werden und Sterbehilfe ein anderes Wort für Wärme und Güte sein kann. Dieses Buch erzählt davon, wie zwei Menschen sich auf dem Grat zwischen Leben und Tod aneinander abkämpfen, sich argumentativ niederzuringen und gegenseitig zu retten versuchen. Jojo Moyes schafft das Kunststück, dieses zutiefst existenzielle und emotional höchst aufgeladene menschliche Drama so leichtfüßig und humorvoll in Szene zu setzen, dass falsche Betroffenheit gar nicht erst aufkommen kann. „Ein ganzes halbes Jahr“ ist vielmehr eine Versuchsanordnung, mit deren Hilfe durchgespielt wird: Was wäre wenn…?

Louisa geht die Sache so an: Sie möchte Will mit allerlei Gesprächen und Ausflügen, zum Beispiel zu Pferderennen oder auf die Malediven (schöner kann`s im Paradies auch nicht sein), im Leben halten. Sie hofft, ihn so vor dem frühen Tod retten zu können. Sie meint es gut. Will hingegen geht diese Haltung gehörig auf die Nerven. Er hat bereits genug von der Schönheit der Welt gekostet, er hat seine Wahl getroffen und sehnt sich danach, sie endlich verlassen zu können.

Lous gute Absichten richten in seinen Augen mehr Qual und Probleme an, als dass sie diese lindern würden. Er möchte davon verschont bleiben. Doch irgendetwas Sinnvolles will auch er mit seiner noch  verbleibenden Zeit anfangen. Also versucht Will, Louisas Ehrgeiz zu wecken, um sie vor einem Leben in Mittelmäßigkeit zu retten. Dieses wiederum hat sie im Großen und Ganzen recht gern. Sie braucht keine Extreme, das mittlere Maß hält sie für gut genug, ausgewogen und zufriedenstellend. 

Eine fesselnde Lektion für Lebenskunst

Und so kämpfen Lou und Will mit britischem Humor und bissigen Dialogen bis zur verzweifelten Erschöpfung für das, was sie für gut und für den jeweils anderen für richtig halten. Das ist grausam und anmaßend. Das ist hinreißend und anrührend. In ihrem Ringen umeinander erweisen sie sich als große Liebende. Doch wie das Leben so spielt: Lou und Will bemerken erst sehr spät, welche Kraft sie da aneinander bindet.

Wäre dies ein Kitschroman, wäre es nun an der Zeit, das verbale Streichorchester zum Einsatz zu bringen, unter dessen schwer parfümiertem Klangteppich das charmante, aber auch etwas zerzauste Aschenputtel hervorkriecht und sich in eine strahlende Prinzessin verwandelt. Und der vom Pferd gefallene Prinz erhebt sich dank einer nagelneuen Erfindung der modernen Medizin doch noch aus seinem Rollstuhl …

Aber so leicht macht Jojo Moyes es weder sich noch ihren Figuren noch ihren Lesern. Ob es ein Happy End geben wird, sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: Lou und Will wachsen über sich hinaus. Sie werden ganz groß, wenn sie ganz klein und verletzlich sind. Und am Ende bekommen beide, was sie wollen.

Alles in allem ist dieses Buch eine kluge und bis zur letzten Seite fesselnde Lektion in Lebenskunst und Abschiednehmen, Selbstironie und Heiterkeit im Angesicht unseres fragilen Daseins. Sehr zu empfehlen.

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