Theodor-Wolff-Preis für „Bettys erstes Mal“

  • Nancy Göring
Der Journalistenpreis der deutschen Zeitungen - der Theodor-Wolff-Preis - ist die renommierteste Auszeichnung, die die Zeitungsbranche zu vergeben hat. Benjamin Piel hat in diesem Jahr in der Sparte „Lokaljournalismus“ gewonnen. „Bettys erstes Mal“ ist zuerst in der Elbe-Jeetzel-Zeitung erschienen - und konnte in der vergangenen Woche auch bei uns gelesen werden. Hier noch einmal der Text.
07.05.2014
Benjamin Piel

Betty ist 73 und Jungfrau. Noch nie hat ein Mann ihren nackten Körper gestreichelt. Betty ist fast blind und geistig behindert. Noch nie hat sie gespürt, wie das kribbelt im Bauch. „Ick hab Mut“, sagt Betty und nickt, „ick hab Mut.“

Es ist Freitagabend im Trebeler Gästehaus. An einem langen Tisch sitzen Behinderte und ihre Betreuer. Kerzen brennen, Kastanien liegen neben bunten Blättern auf der Tischplatte. Einige löffeln Kürbissuppe, andere stehen Schlange am Büfett. „Vorher müssen wir beten“, sagt ein Behinderter mit Bart und faltet die Hände. „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.“

„Ich bin Lothar Sandfort und ich bin behindert“, sagt ein Mann, der in einem Rollstuhl sitzt. „Das sehen wir doch, wenn du da in deinem Rollstuhl hockst“, sagt der Bärtige. Sandfort ist Psychologe und leitet das Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISBB). Heute beginnt ein Erotik-Workshop. Behinderte, die sich nach Sex sehnen, treffen auf Sexualbegleiter in Ausbildung, die ihnen Sex gegen Bezahlung anbieten. „Wenn ihr ein Date haben wollt, müsst ihr zu dem Sexualbegleiter gehen und ihm oder ihr sagen, was ihr haben wollt“, sagt Sandfort, „ihr könnt Sex haben, müsst ihr aber nicht.“ Betty reißt den Kopf nach oben und lacht auf. „Ick freu mir schon“, sagt sie und ihre feuerrot gefärbten Locken wackeln hin und her.

Betty kommt aus Berlin-Kreuzberg. „Da schmeißen sie am 1. Mai Flaschen“, sagt sie. Seit Jahrzehnten wohnt sie in einem Behindertenheim in Brandenburg. Früher hat sie in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet, hat Haken an Möbel geschraubt. Seit acht Jahren ist Betty Rentnerin, bekommt 300 Euro im Monat. Sie kann kaum laufen. Langsam setzt sie einen Fuß vor den anderen, krümmt den Rücken, tastet sich an Tischen, Stühlen und Wänden entlang. Betty lebt gerne und redet viel. Ihre kratzige Stimme ist laut. Elf Ringe trägt sie an den Händen, Ohrringe, um den Hals baumelt eine Kette, an der ein großer Bernstein hängt. Wenn sie ihn ganz nah an ihr Auge hält, kann sie manchmal ein Glitzern sehen. Betty lässt sich von ihrem Betreuer ein zweites Glas Rotwein einschenken. „Ich trinke gerne.“ Betty wünscht sich einen Mann, der sie streichelt und massiert. „Ich will einen, der stark ist, und der sagt dann wahrscheinlich zu mir: ,Zieh dich aus, kleine Maus'“, sagt sie.

Jean heißt eigentlich nicht Jean. Aber wenn der Mann  aus Zürich als Sexualbegleiter unterwegs ist, nennt er sich so. Jean ist um die 60 und Mathematiklehrer. Seit einiger Zeit bietet er behinderten Frauen erotische Dienstleistungen an, massiert sie von oben bis unten, streichelt sie, erfüllt sexuelle Fantasien. „Sex ist nicht immer drin, denn dafür muss ich selbst erregt sein“, sagt er. Er spricht langsam und mit schweizerischem Akzent, zieht die Wörter lang, seine Stimme ist tief und sanft. Von der Sexualbegleitung hat Jean aus dem Radio erfahren. Jetzt ist er fast fertig mit der Ausbildung. Früher hätte Jean sich nicht vorstellen können, mit Behinderten Sex zu haben. Aber dann entdeckte er Tantra, lernte neue Seiten der Sexualität kennen. „Ich kann mich sehr gut einfühlen in die Situation der Behinderten, in ihre unerfüllten Sehnsüchte und das gibt mir unheimlich viel.“ Die Dienstleistung, die er anbietet und für die er 90 Euro in der Stunde bekommt, sei Prostitution, ja, aber keine mechanische Verrichtung von Bewegungen, sondern eine tiefe Begegnung zweier Menschen. „Es fällt mir leicht, diesen Menschen Zuwendung zu geben“, sagt er und streicht sich durch den weißen Schnauzbart. Gerne würde er offen damit umgehen, dass er Sex mit Behinderten hat, aber Jean muss vorsichtig sein. Als Lehrer ist es besonders gefährlich, er fürchtet das Unverständnis. Jean wünscht sich eine Welt ohne dieses Tabu. Seinen vier Kindern hat er davon erzählt, habe kein Doppelleben gewollt. Eine Frau, der er seine Mission gestehen müsste, gibt es nicht. „Guten Freunden habe ich es auch gesagt“, sagt er. Die Freundschaft hat ihm danach niemand gekündigt. In zwei Jahren will er raus aus dem Schuldienst, den er oft als Belastung empfindet.

„Ick hab Lust und ick hab Mut“, sagt Betty. Jean setzt sich neben sie. „Weißt du, wie alt ich bin?“, fragt sie ihn, „73 – manche sagen, dass ich jünger aussehe.“ – „Ja, das finde ich auch“, sagt Jean. „Hattest du schon mal einen Mann?“ – „Nein, nein, nie.“ – „Ich habe vier Kinder und ich hatte eine Frau, aber jetzt bin ich geschieden.“ Er nimmt ihre Kette zwischen die Finger. „Ein Bernstein?“ – „Ja, den habe ich mir in Zinnowitz gekauft.“ – „Der ist sehr schön“. Betty lacht, nimmt Jeans Hand und hält sie fest. „Wie heißt du?“ – „Jean“ – „Jens?“ – „Nein, Jean, das ist ein französischer Name.“ – „Oh, französisch.“ Sie lacht auf. „Ich will den Mann fragen, ob er mich anfassen will.“ – „Ich bin der Mann.“ – „Aaaaah“, sagt sie und zieht die Augenbrauen hoch. „Wir beide machen das“, sagt Jean. „Von mir aus kannst du alles machen“, sagt sie, beugt sich zu ihm vor und kichert. „Aber das besprechen wir dann unter drei Augen“, sagt Betty. Sie hat nur ein Auge, das andere ist aus Glas. Sie zieht ihre Mundharmonika aus der Tasche und spielt. Weißt du, wieviel Sternlein stehen. „Das ist aber schön“, sagt Jean.

Bettys Betreuer Mirko hatte vorgeschlagen, nach Trebel zu fahren. In der Einrichtung, in der er arbeitet, gehen viele Mitarbeiter offen mit dem Thema Sex um. Mirko hat einen Arbeitskreis zum Thema gegründet, lädt Behinderte zu Männerrunden ein, veranstaltet Single-Diskos, bestellt Sexualbegleiterinnen in die Einrichtung. Seitdem reden Betreuer und Behinderte offener über das Thema. „Zum Glück ist die Leitung aufgeschlossen“, sagt er. Aus Trebel würden die Behinderten verändert zurückkehren: „Viele achten mehr auf ihr Äußeres, sind selbstbewusster, ruhiger, weniger aggressiv, tiefenentspannt.“

Am Sonnabendmorgen treffen sich die Behinderten ohne Betreuer mit Lothar Sandfort. Sie sitzen im Kreis. „Alles, was wir hier reden, bleibt geheim“, sagt er, „denn wir reden jetzt über Sex.“ – „Das ist doch normal“, sagt Betty. „Aber was wir hier machen, das ist nicht normal.“ – „Im Hotel massieren sie doch auch.“ – „Aber im Hotel geht es um die Muskulatur, hier geht es um das Gefühl im Kopf – wenn es im Bauch und in der Scheide kribbelt, dann ist das Erotik“, sagt Sandfort. „Wenn du ein Date mit Jean haben willst, dann musst du das sagen, du musst dir vorher ein paar Gedanken machen und sagen, was du willst und was du nicht willst“, sagt er. „Ich will, dass er es mir macht, das habe ich ihm schon gesagt“, sagt Betty. „Das ist gut, aber es hört sich so an, als würdest du zum Schuster gehen, um eine neue Sohle an den Schuh machen zu lassen. Du musst schauen, dass es dir dabei gut geht und du musst auch schauen, dass es Jean gut geht.“ Sie sprechen über Kondome und darüber, dass beim Sex Kinder entstehen können, über Aids und andere Krankheiten. „Mit Sex ist das so, dass beide Partner etwas geben und etwas bekommen“, sagt Sandfort, „wir wollen hier kein Bordell sein, sondern wir wollen, dass die, die zu uns kommen, etwas für das richtige Leben lernen. Wenn ihr eine Freundin habt, dann müsst ihr sie ja auch fragen, was sie mag und was nicht.“

Ein paar Stunden später gibt es Tantra-Übungen. Die Behinderten lassen sich massieren und streicheln, liegen auf dem Boden im sanften Licht, genießen die Berührungen. Am Abend haben Betty und Jean ihr Date. Er zieht sie aus, massiert sie. Betty genießt und will ein zweites Date. „Ich will Sexeln“, sagt sie und lacht los. Am Sonntag gibt es das zweite Date. „Ich hatte einen Mann“, sagt Betty, als es zurück nach Brandenburg geht. Betty ist 73, fast blind, geistig behindert. Und keine Jungfrau.

 

„Wir sind eine große Selbsterfahrungsgruppe“

Behinderte sehnen sich nach Sex. Für viele ist es aber fast unmöglich, welchen zu haben. Der Frust ist bei vielen groß. Benjamin Piel sprach mit dem Psychologen Lothar Sandfort, dem Gründer des Instituts zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISSB), über das Tabuthema.

Frustriert Sie der Umgang mit Sex in Behinderten-Einrichtungen?

Lothar Sandfort: Ja, sehr. Ich habe ein schlechtes Bild vom Betreuungssystem. Aber es gibt Hoffnung,  Menschen, die das Thema anpacken. Leider sind es zu wenige. In den Einrichtungen ist Sexualität ein Dauerthema – zumindest im Empfinden der Behinderten. Doch viele Betreuer haben panische Angst vor Übergriffen oder Schwangerschaften in ihren Einrichtungen. Aus Hilflosigkeit schweigen sie das Thema tot. Nicht wenige Einrichtungen haben sich noch nie hilfreich mit dem Thema auseinandergesetzt.

Und setzen Medikamente ein.

Leider auch das. Dabei lassen sich die Sehnsüchte auf Dauer gar nicht wegmedikamentieren. Satt und sauber sollen die Behinderten sein – das ist viel zu wenig.

An Ihrem Institut zahlen Behinderte 90 Euro und bekommen dafür eine Stunde Sex.

Das ist ungefähr auch der Nettopreis in den Studios. Die Sexualbegleiterinnen brauchen das Geld zur Identitätsfindung – dass die Frauen den Behinderten aus Mitleid helfen wollen, muss aus ihren Köpfen raus. Die Behinderten brauchen das Geld zur Abgrenzung – wenn sie zahlen, dann müssen sie nicht dankbar sein, und sie merken, dass sie eine Dienstleistung bekommen.

Kommt diese Botschaft an?

Nur schleppend. Behinderte sind darauf getrimmt, dankbar sein zu müssen. Das steckt ganz tief drin, weil die Gesellschaft es ihnen einimpft. Wer dankbar sein muss, verliert die Freiheit, dankbar sein zu können.

Was ist der Unterschied zwischen traditioneller Prostitution und Sexualbegleitung?

Die traditionelle Prostitution verkauft Illusionen, bei uns passiert das Gegenteil. Die Sexualbegleiterinnen sind zur Wahrheit verpflichtet. Wenn ein Behinderter nicht gut riecht, dann sagt die Sexualbegleiterin ihm das, damit er es ändern kann. So etwas würde in der traditionellen Prostitution kaum passieren. Wir sind kein Bordell, sondern ein diagnostisch-therapeuthisches Institut.

Glauben Sie, dass es weniger Vergewaltigungen – wie kürzlich in Wustrow – gäbe, wenn man offensiver mit dem Thema umginge?

Davon bin ich überzeugt. Leider verweigern sich viele Einrichtungen dem Thema. Im Landkreis arbeite ich nur mit einer einzigen zusammen. Dass ein Behinderter auf die Idee kommt, sich Sex nehmen zu müssen, weil niemand ihm eine andere Möglichkeit gezeigt hat, ist schlimm.

Was treibt nicht-behinderte Frauen an, Sex mit Behinderten zu haben?

Die meisten sind in den Wechseljahren, zeitgleich verändern sich die Rollen als Mutter und Partnerin radikal. Sie haben nun in einer neuen Lebensphase erstmals das Gefühl, wirklich zu sich kommen zu können, wünschen sich aber weiterhin, jemandem etwas Lebenswichtiges geben zu können. Bei uns lernen sie, Behinderten zu begegnen und ihnen ehrliche Erfahrungen zu vermitteln, die nicht immer einfach zu verkraften sind. Mein Ziel ist es, dass die Behinderten nicht ihrer Krisen beraubt werden. Erfolgreich durchlebte Krisen stärken. Im Grunde genommen sind wir eine große Selbsterfahrungsgruppe.

Warum sind 90 Prozent der Behinderten, die zu ihnen kommen, Männer?

Behinderte Frauen sind genauso oft frustriert, zeigen das aber anders. Sie neigen zu Depressionen, Männer sind eher aggressiv – die Bereitschaft bei Betreuern und Eltern, auf die Aggressionen zu reagieren und professionelle Hilfe zu holen, ist größer. Außerdem sind 80 Prozent der Betreuer weiblich. Für viele Frauen passen Frauen als Kundinnen von Prostitution einfach nicht ins Bild.

Was ist, wenn sich Behinderte in Sexualbegleiterinnen verlieben?

Das passiert fast ausschließlich Körperbehinderten. Die müssen dann da durch und erleben mit unserer Hilfe, dass es ein Leben nach dem Liebeskummer gibt. Das stärkt sie. Wir fördern ein Recht auf Liebeskummer.

Wie viele Sexualbegleiterinnen haben Sie schon ausgebildet?

Um die 80. Aber nur etwa zehn sind zeitgleich aktiv. Es gibt nur wenige, die das langjährig machen. Die meisten hören nach eineinhalb Jahren wieder auf, wenn sie ihren Lebensumbruch erfolgreich hinter sich haben.

Sie sind nach einem Unfall querschnittgelähmt. Wie sind Sie nach dem Unfall mit ihrer Sexualität klargekommen?

Es hat acht Jahre gedauert, bis ich meine Sexualität umorganisiert hatte. Ich hatte das Glück, die richtigen Menschen kennenzulernen. Das Thema war damals ein großes Tabu.

Ist es noch immer.

Nicht ganz. Wir beide reden zum Beispiel öffentlich darüber. Ich bin aber dennoch oft traurig, wenn mir bewusst wird, wie langsam es voran geht. Das ISSB gibt es mittlerweile seit 14 Jahren – wie wenig sich seitdem verändert hat, frustriert mich manchmal gewaltig. Aber es gibt Hoffnung.

Benjamin Piel hat für die Schweriner Volkszeitung gearbeitet und ist heute Redakteur bei der Elbe-Jeetzel-Zeitung.