Anna und der Weihnachtshase
Heute ist endlich der 1. Dezember.
Schon seit Wochen freut die kleine Stadtfee Anna sich auf diesen Tag. Vor Aufregung zittern ihre knallroten, wie Antennen vom Kopf abstehenden, Zöpfe. Heute kann Anna endlich das erste Türchen vom Weihnachtskalender öffnen.
Sie hat die letzten Tage rückwärts gezählt und kaum aus dem Bett heraus, stellt sie sich auf Zehenspitzen, pult das Türchen mit der Zahl 1 auf und holt eine kleine Schokoladenfigur heraus, einen niedlichen Hasen mit langen Ohren und großen runden Knopfaugen.
„Guten Morgen, mein Freund", sagt sie, „Ich, muss mich leider schon wieder von dir verabschieden, denn du kleiner Schokoladenhase kommst mir gerade recht zum Frühstück. Sag Auf Wiedersehen zu Annabenitacecilia vom Rotenhaus der Vierundsechzigsten.“
Ja, Annabenitacecilia so heißt Anna mit richtigem Namen. Aber den auszusprechen macht sich keiner die Mühe, höchsten Annas Vater, wenn er sauer auf sie ist. Der Nachname vom Rotenhaus kommt vom roten Haus in dem ihre Familie wohnt. Und sie ist die vierundsechzigste Annabenitacecilia in Ihrer Familie. Die dreiundsechzigste ist ihre Mutter, die Großmutter Grete ist Nummer 62, die Urgroßmutter und ihre Zwillingsschwestern waren die Nummern 60 und 61.
Gerade will Anna sich die Schokolade in den Mund schieben, da stecken ihre Mutter und ihr kleiner Bruder J.A.N. , das steht für Jakobantonorbert die Köpfe zur Tür hinein: „Komm mit, wir wollen Papa wecken.“
Fast hätte sie es vergessen. Heute ist ja Vaters Geburtstag.
Keine schöne Zeit, findet Anna, so im Winter, kurz vor Weihnachten. Da möchte sie nicht Geburtstag haben. Ihr Geburtstag liegt viel besser. Genau ein halbes Jahr nach Weihnachten, mitten im Sommer. Sie kann immer draußen im Garten feiern. Da stört es keinen, wenn sie herum toben. Anna hat sich vorgenommen zu ihren Geburtstagen immer so viel Gäste einzuladen, wie sie Jahre alt wird. Je älter sie wird, desto größer werden die Partys. Bei Annas Vater geht das nicht. Der kann doch im Winter nicht draußen feiern. Und heute wird er 35 Jahre alt. Wie sollte er 35 Gäste in der kleinen Wohnstube des roten Hauses unterbringen.
Aber noch schnarcht der Vater leise.
„Drei, vier“, flüstert Annas Mutter, schaltet das Licht an, und sie kreischen los: „Herzlichen Glückwunsch!“
Erschrocken schlägt der Vater die Augen auf, und alle springen sie zu ihm ins Bett, überhäufen ihn mit bunt eingewickelten Päckchen und rufen im Chor: „Auspacken, auspacken!“
Annas Vater freut sich sehr über seine Geschenke. Ganz besonders über das Radrennfahrertrikot und die dazu passende Hose. Zum Frühstück zieht der Vater beides an und stolziert glücklich durch die Küche. Er fährt eben Rad aus Leidenschaft.
Anna lacht: „Papa, du siehst toll aus.“
In Wirklichkeit aber sieht er darin aus wie eine bunte Bockwurst. Nur wird sie das jetzt auf keinen Fall sagen. Sie möchte ihm nicht die Freude verderben, schließlich feiert er heute Geburtstag.
Das Frühstück schmeckt Anna gar nicht. Nicht mal ein frisches Brötchen mit ihrer Lieblingsmarmelade. Anna will wieder in ihr Zimmer und endlich den Schokoladenhasen aus dem Weihnachtskalender essen.
Sie legt legt sich mitten auf dem Teppich auf den Rücken und steckt sich den ganzen Schokohasen auf einmal in den Mund. Während er langsam auf der Zunge zergeht, träumt Anna sich auf einer süßen Wolke ins Schokoladenland, wo nur Marzipanbrote gebacken werden, die Menschen Lebkuchenherzen haben und Zuckerhüte tragen.
Am Nachmittag kommen Oma Annabenitacecilia die Zweiundsechzigste und ein paar Kaffeetanten und -onkel zu Besuch. Auf des Papas Wohl trinken sie abwechselnd Waldmeisterbrühe und Wachteleierlikör und stopfen sich mit Klabusterkuchen voll. Anna und J.A.N. sitzen gelangweilt dabei. Es passiert jedesmal das Gleiche. Zuerst staunen alle, wie groß doch die Kinder geworden sind und dann interessiert sich keiner mehr für sie. Hauptsache sie stören nicht.
Anna würde gern von ihrem Traum erzählen und die Erwachsenen fragen, wo es denn liegt, das Schokoladenland. Doch die haben keine Zeit zuzuhören. Die besprechen wichtige Dinge, die Anna aber langweilen. Also hört sie nur mit halbem Ohr hin. Ihr ist es doch völlig egal ob denn der neue Minister Präsident oder König wird oder einen Dieselmotor bekommt und ob man Neuwahlen in der Bundesliga anstreben sollte.
Am Abend klingeln alte Freunde von Annas Vater. Hans der Troll schenkt eine Tüte Linsen für den Fotoapparat oder für die Suppe. Der schlitzohrige Fred und Klabauterkalle bringen ein paar Flaschen Nebelgeist mit und ihre Frauen.
Schnell verabschieden sich Oma und die Onkel und Tanten, sie wollen nicht stören, sagen sie.
Anna winkt ihnen hinterher und gibt dann ihrem Vater einen dicken Kuss: „Feier noch schön, ich geh ins Bett.“
„Ich komm gleich zu dir und wir erzählen uns noch eine Geschichte“, sagt er. Und weil er es nicht so meint wird seine Nase ganz rot und wächst ein Stückchen.
Anna sagt nichts mehr. Sie weiß, wenn Gäste kommen, haben die Eltern verdammt wenig Zeit für sie. Und wenn Klabauterkalle dabei ist, wird es lustig und spät.
Trotzdem liegt sie noch lange wach, wartet und wünscht sich einen Freund, dem sie erzählen kann, worüber sie sich ärgert, wie jetzt. Einen der immer bei ihr ist, wenn sie ihn braucht. Einen, der niemals, egal was sie anstellt, petzen wird. Einen, der die allergrößten Geheimnisse für sich behält, und der sie eher mit ins Grab nimmt, als nur ein Wort zu verraten.
Anna schaut auf ihren Weihnachtskalender und plötzlich weiß sie, was sie sich zum Fest wünscht.
Als ihr Vater zu Anna ins Zimmer schaut, spät und mit schlechtem Gewissen, liegt sie längst glücklich lächelnd in tiefem Schlaf.