Anna und der Weihnachtshase (Teil 5)
5. Dezember
Vielleicht hat der Weihnachtsmann in der Nacht durchs Fenster des roten Hauses nach Anna geschaut und ihren Wunschzettel, die Kopie des Fotos, übersehen. Aber nein, das wäre unmöglich. Anna hat ihn doch mitten aufs Fenster geklebt. Man sieht ihn sogar von der Straße aus, selbst nachts im Schein der Laternen. Anna hatte sich nach dem Abendbrot extra noch mal raus geschlichen und geguckt, und sie hat über Nacht auch wieder das Fenster aufgelassen. Zwar nur einen schmalen Spalt. Doch breit genug, dass der Weihnachtsmann hätte hinein greifen und sich den Wunschzettel nehmen können. Aber am Fenster hat sich nichts geändert, seit gestern Abend. Der Tag fängt nicht gut an. Und es kommt noch schlimmer.
„Anni, Annileinchen, Mäuschen“, hört Anna ihre Mutter rufen. Oje, dass bedeutet nichts Gutes. Anna hasst es, wenn ihr Name verniedlicht wird. Dass sie kurz Anna statt Annabenitacecilia gerufen wird findet sie auch in Ordnung aber Anni oder noch schlimmer Annileinchen. Nein, so reden nur die Tanten und anstrengende Omis. Oder Annas Mutter, wenn sie etwas von ihr will.
Anna braucht nicht lange zu warten, bis die Mutter ihr über den Kopf streicht und die drei Zöpfe zurecht zupft: „Annilein, ich will mit J.A.N. los. Papa musste auch schon ganz früh aus dem Haus. Räume bitte die Abwaschmaschine aus, auch wenn eigentlich J.A.N. an der Reihe ist. Dankeschön.“
Was soll Anna dazu sagen. Das ihr Brüderchen J.A.N., dieser kleine Faulpelz, sich mal wieder fabelhaft vor der Arbeit drückt. Oder dass sie einfach keine Lust hat. Ihrer Mutter würde das nicht gefallen.
Anna stöhnt: „Gut, aber unter einer Bedingung.“
„Und die wäre?“ fragt die Mutter.
„Wenn du den Weihnachtsmann triffst, dann gibst du ihm meinen Wunschzettel.“
Anna drückt der Mutter eine der Kopien, des Fotos von ihr mit dem Weihnachtshasenbild, in die Hand.
„Du mit deinem Hasen“, seufzt die Mutter, „aber einverstanden, wenn ich den Weihnachtsmann treffe, gebe ich ihm deinen Wunschzettel.“
„Danke Mama“, sagt Anna und drückt ihr einen dicken Kuss auf die Wange. Dann dreht sie sich zu J.A.N. um und streckt ihm die Zunge raus: „Tschüs, Faulpelz!“
Kaum räumt Anna die die ersten Gläser in den Schrank, steht Lukas vor dem Haus und zieht ein Gesicht, als musste er zwei Liter Zitronensaft trinken. Er streckt ihr mit der rechten Hand einen braunen Umschlag entgegen. Hier, den soll ich dir von meiner Mutter geben. Neugierig reißt Anna den Umschlag auf. Darin steckt das Originalfoto mit dem Weihnachtshasen-Wunschzettel.
Anna wundert sich: „Wie kommt denn deine Mutter zu meinem Foto.“
„Tja, da steckt das Problem“, seufzt Lukas, „als wir gestern im Büro meiner Mutter waren, habe ich das Foto auf der Kopiermaschine liegen lassen. Und wir durften doch eigentlich nichts anfassen. Jedenfalls reagierte meine Mutter ziemlich sauer. Sie meint, wir hätten sie ja auch fragen können?“
„Und, hätte das was gebracht?“, fragt Anna.
„Weiß nicht. Vielleicht. Kommt darauf an, wie es gerade so läuft bei ihr. Läufts schlecht, hält sie uns eine halbe Stunde einen Vortrag über die Trennung von Arbeit und Familie, statt eine Minute zu kopieren. Wenns bei ihr gut läuft, hätte sie uns alles machen lassen. Sogar die Zwerge darf man dann füttern. Nur woher soll ich wissen, wie es gerade läuft?“
„Da kann man nichts machen“, sagt Anna, „komm endlich rein, du kannst mir bei der Abwaschmaschine helfen.“
Lukas schüttelt den Kopf: „Nein, lass mal.“
Anna zieht ihn an der Jacke: „Nun komm schon, mit der Abwaschmaschine war ein Witz. Die schaffe ich alleine und dir koche ich einen großen Kaktus-Kakao. Und dann überlegen wir gemeinsam, wem wir noch einen Wunschzettel für den Weihnachtsmann mitgeben können.“
Lukas schüttelt wieder den Kopf: „Tut mir echt leid, ich kann wirklich nicht.“
Irgend etwa stimmt nicht. Anna schaut ihren Freund prüfend an: „Was ist los?“
Der senkt den Kopf: „Ich muss sofort wieder nach hause.“
„Na, dann kommst du am Nachmittag vorbei.“
„Geht auch nicht.“
„Dann eben morgen.“
Lukas seufzt: „Morgen geht auch nicht und übermorgen auch nicht. Ich sitze im Hausarrest. Drei Tage lang. Für jede Kopie einen Tag.“
„Das verstehe ich nicht“, sagt Anna, „wieso drei Tage? Wir haben doch zehn Kopien?“
„Pssst“, zischt Lukas und legt den Zeigefinger auf den Mund, „nicht so laut, alles müssen wir ja nicht verraten.“
Da muss Anna lachen, obwohl sie traurig ist.
Lukas zwinkert ihr schnell noch einmal zu, und dann rennt er nach Hause. Er will sich nicht noch eine zusätzliche Strafe wegen Bummelei einfangen.
Den ganzen Tag grübelt Anna noch über ihrer Liste. Wie erreicht sie den Weihnachtsmann noch rechtzeitig und wer hilft ihr dabei. Unbedingt muss sie dem Vater einen Wunschzettel mitgeben. Der kommt beim Fotografieren viel herum. Der kennt so viele Leute und irgendeiner von denen wird doch wohl den Weihnachtsmann kennen.
Und auf den Weihnachtsmarkt wird sie fahren. Und die Rentiere im Zoo besuchen.
Aber erstmal putzt sie ihre Schuhe. Denn heute Nacht kommt der Nikolaus. Und der wohnt ja direkt neben dem Weihnachtsmann.
Anna sucht ihr kleinstes paar Schuhe raus. Der Nikolaus kann zwar wenig hinein stecken, er kann aber auf gar keinen Fall den Wunschzettel darin übersehen.
Anna poliert die kleinen roten Schuhe so sehr, dass sie wie Rubine glänzen. Dann holt sie ein Wunschzettelbild und schreibt auf die Rückseite: Lieber Nikolaus, gebe bitte diesen Brief dem Weihnachtsmann. Dafür brauchst du mir auch nichts in die Schuhe stecken. Vielen Dank, Deine Anna.
Sie rollt das Blatt zusammen, bindet eine große blaue Schleife darum und schiebt den Brief in ihre Schuhe.
Anna stellt sich den Wecker und geht heute sehr früh ins Bett. Sie will ein bisschen vorschlafen, denn in der Nacht muss sie munter sein, sie will den Nikolaus nicht verpassen. Sicher ist sicher.