Anna und der Weihnachtshase (Teil 12)

  • regge vom schulzenhof
Eine Adventsgeschichte zum Lesen und Gucken, zum Zuhören und Staunen. Ein Weihnachtsmärchen in 24 Teilen, die die Zeit bis Heiligabend verkürzen soll.
12.12.2014
Roland Regge-Schulz

12. Dezember

Anna rennt so schnell sie kann. Schwere Schritte poltern hinter ihr. Sie kommen näher, immer näher. Der böse Roy Bärklabunde ist hinter ihr her. Genau der Bärklabunde, dem Anna gestern noch in der Bank die Weihnachtsmannmaske herunter gezogen und ihn damit entlarvt hatte. Genau der Bärklabunde, den die Polizei am Abend abgeholt hatte, und ihn, betrunken wie er war, ins Gefängnis gesperrt hat. Nun aber läuft er hinter Anna her.
„Bleib stehen“, brüllt er und schüttelt die Faust.
Anna hört ihn schon ganz deutlich Schnaufen. Sie macht einen Fehler und dreht sich um. Mit Augen nach hinten, kann man nicht nach vorn sehen. Das ist gefährlich, besonders beim Laufen. Anna sieht nicht den Stein vor sich auf dem Weg, sie stolpert und fällt der Länge nach hin.
„Aufstehen, Anna, aufstehen!“
Eine vertraute Stimme rüttelt Anna wach..
„Aufstehen, Anna, aufstehen!“
Es ist Papas Stimme.
„Papa, Papa“, ruft Anna, „schön dass du da bist. Wo warst du denn so lange?“
Annas Vater steht in der Tür und schüttelt den Kopf: „Na, in der Küche, wie jeden Morgen. Ist alles in Ordnung?“
In der Küche? Wieso in der Küche? Nur langsam wird Anna richtig wach. Natürlich in der Küche. Und Roy Bärklabunde sitzt im Gefängnis, wo er hingehört. Sie hat nur geträumt. Die ganze Verfolgungsjagd war nur ein langer, böser Traum. Kein Wunder nach der gestrigen Aufregung.
Vater geht wieder hinunter in die Küche. Als Anna ins Badezimmer schlüpft, hört sie ihn laut singen: „Heut ist ein wunderschöner Tag....“
Anna wundert sich. Dass ihr Vater schon am frühen Morgen fröhlich sein kann, findet sie zwar komisch, aber sie hat sich daran gewöhnt. Doch dass er singt, findet Anna sehr bedenklich. Nicht, dass jetzt jemand denkt, die Anna ist ein Morgenmuffel. Nein, nein.. Doch lässt sie den Tag, wie ihre Mutter, lieber ruhig angehen. Es kommt schon vor dass beide bis nach dem Frühstück kein einziges Wort gesagt haben. Höchstens ein kurzes sirrendes Flügelschlagen als Gruß oder als Antwort auf eine von Papas Fragen.

Als Anna in die Küche kommt, duftet es dort herrlich nach Kaffee, Kakao und frisch gebratenen Wolkenflocken mit Speck. Annas Vater hat den Tisch gedeckt, als sei heute ein wichtiger Feiertag. Mit Kerzen und Servietten, mit dem guten Geschirr und einer schneeweißen Tischdecke.
„Habe ich irgend etwas verpasst?“, fragt Anna.
Vater freut sich: „Gefällt es dir? Hast du schon Hunger?“
Ja was ist denn nun los. Sonst muss Anna immer warten, bis endlich alle am Tisch sitzen, egal wie groß ihr Hunger ist.
Misstrauisch schaut sie den Vater an: „Was ist los mit dir?“
„Wieso mit mir?“, lacht der Vater, „mit dir!“
Er nimmt Anna in den Arm und drückt sie: „Meine kleine Heldin. Weißt du, vorhin hat die Redaktion der Stadtzeitung angerufen und ich habe einen wunderbaren Auftrag bekommen. Ich soll das mutigste, tapferste und allerschönste Mädchen von der ganzen Welt fotografieren.“
„Mutti?“, fragt Anna.
Papa lacht: „Quatsch, Mutti ist doch kein Mädchen mehr. Dich soll ich fotografieren.“
„Echt? Mich? Für die Zeitung?“
„Aber ja, weil du jetzt eine kleine Heldin bist. Weil sie durch dich endlich den bösen Räuber Roy Bärklabunde erwischt haben. Aber jetzt frühstücken wir erstmal und heute Nachmittag treffen wir uns mit dem Ober-Schreiber von der Zeitung, dem Polizeichef und dem Schatzkammerdirektor.“
Nun muss Anna sich doch erst einmal setzen. Ihre Flügeln zittern vor Schreck. Und ans Essen mag sie jetzt überhaupt nicht denken. Da mochten Wolkenflocken und Speck auch noch so verführerisch duften.
Heute Nachmittag wollen sich so wichtige Leute mit ihr treffen. Ist das aufregend. Dermaßen aufregend, dass sie ganz zappelig wird und ihren Apfel-Kakao umstößt. So eine Schweinerei. Der schön gedeckte Tisch. Dahin! Aber Annas Papa schimpft nicht.
„Lass mal, Anna, ich mach dass schon“, sagt er und legt ein neues Tischtuch auf, bevor die Mutter und J.A.N. in die Küche kommen.
Den ganzen Tag bleibt Anna so zappelig. Für nichts und niemandem hat sie Geduld. Aber sie erzählt auch niemandem, warum sie so aufgeregt ist. Nicht mal dem grünen Lukas, ihrem besten Freund. Sie will nicht als Angeberin dastehen.
Am Nachmittag holt Annas Vater sie ab. Gemeinsam fahren sie zur Schatzkammer. Anna wird immer aufgeregter. Der Vater legt ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Er ist sehr stolz auf seine Tochter.
In der Schalterhalle warten alle schon auf Anna. Der Schatzkammerdirektor in einem feinen, dunkelblauen Anzug. Der Polizeichef in seiner blitzblanken Uniform. Der Reporter von der Zeitung mit Schreibblock und Stift. Und daneben steht, Anna traut ihren Augen kaum, sogar der Stadtkönig.
Tja, und dann lässt sich der Reporter erklären, wie es gestern war, mit Roy Bärklabunde verkleidet als Weihnachtsmann. Und der Herr Stadtkönig und der Polizeichef schütteln Anna die Hand und sagen, wie stolz sie sind auf die tapferste Jungfee ihrer Stadt. Der Herr Schatzkammerdirektor macht erst ein feierliches Gesicht, und dann schenkt er Anna ein Sparschwein. Ein Sparschwein mit richtigem Gold darin. Mehr Gold als Anna in einem ganzen Jahr an Taschengeld bekommt. Und Annas Papa fotografiert alles. Wie jeder nacheinander Annas Hand schüttelt, wie der Schatzkammerdirektor ihr das Sparschwein schenkt und der Polizeichef ihr eine Ehrenurkunde überreicht.
Als Annas Vater endlich zufrieden mit seiner Arbeit den Fotoapparat einpackt und sich alle verabschiedet haben, klappt der Reporter noch einmal sein Notizbuch auf.
„Kleinste Annabenitacecilia vom roten Haus“, fragt er, „warum wolltest du eigentlich unbedingt den Weihnachtsmann sprechen?“
„Na, weil ich die Schlittschuhe abbestellen wollte, weil ich mir doch jetzt einen Hasen wünsche, einen richtigen Weihnachtshasen.“
Da hat Anna eine großartige Idee. Sie zieht den Reporter zu sich hinunter und dann flüstert sie ihm ins Ohr. Der wiegt erst bedenklich den Kopf, dann nickt er und Anna zieht einen Umschlag aus ihrer Tasche. Der Reporter schaut kurz hinein, nickt erneut, steckt etwas aus dem Umschlag ein und flüstert: „Das wird sich machen lassen.“

Am Abend schläft Anna glücklich und schnell ein. Sie will früh wach sein am nächsten Morgen. Sie will am Briefkasten sein, wenn der Zusteller die Zeitung bringt.