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Die EU: Traum oder Trauma? Das Streitgespräch
Bernd Lucke nennt die EU einen „europäischen Überstaat“, der „kostspielig, zentralistisch, bürokratisch“ sei. Ganz anders als der Europawahl-Spitzenkandidat der Alternative für Deutschland (AfD) sieht das die Spitzenkandidatin der deutschen Grünen, Rebecca Harms: Die EU sei ein „großartiger Versuch transnationaler Demokratie“. Entsprechend kontrovers verlief vor einiger Zeit das Gespräch des EU-Parlamentariers in spe und der Fraktionsvorsitzenden der Grünen mit der Elbe-Jeetzel-Zeitung.
Laut ZDF-Politbarometer haben zwei Drittel der Deutschen kein oder nur geringes Interesse an der Europawahl.
Rebecca Harms: Ich halte konsequent gegen diesen Verdruss. Europa ist kein Mist. Europa ist die beste Idee, die Politiker auf diesem Kontinent gehabt haben. Europa ist das Kraut gegen gefährlichen Nationalismus. Natürlich hat es Tücken, wenn 28 Mitgliedsstaaten sich immer neu auf gemeinsame Ziele einigen müssen. Darüber, wie das geschieht und warum es wichtig ist, müssen wir Politiker und die Medien viel mehr erklären.
So argumentieren Sie häufig. Als wollten Sie sagen, dass die Bürger zu blöd sind, die EU zu verstehen.
Harms: Das würde ich nie behaupten! Es gibt nicht viel Medieninteresse an europäischer Politik. Das spielt eine Rolle. Außerdem machen nationale Politiker gerne die EU verantwortlich, wenn etwas schief läuft, auch wenn sie dafür selber verantwortlich sind. Die Skepsis gegenüber der EU ist oft Ausdruck von allgemeiner Unzufriedenheit mit der Politik in den Mitgliedsländern.
Ist sie also eine „Unpässlichkeit“, wie EU-Ratspräsident Hermann van Rompuy glaubt, oder eine „Waffe des Bürgers“, wie Henryk M. Broder meint?
Lucke: Die Umfragen zeigen einen dramatischen Vertrauensverlust der Bürger in die EU. Die Eurokrise ist die mit Abstand schwerste Krise ihrer Geschichte. Das Versprechen, nicht für die Schulden anderer Staaten zu haften, ist mit einem Federstrich beiseite gewischt worden. Ohne ausreichende demokratische Legitimation wächst auf EU-Ebene ein neuer Staat, den in dieser Form kaum jemand will. Kein Wunder, dass das viele Bürger verdrießt.
Gibt es diese Fehlentwicklung, Frau Harms?
Harms: Wir haben keinen Überstaat. Im Gegenteil: Gerade in der Krise haben die EU-Regierungen vieles entschieden, ohne die europäischen Institutionen einzubinden. Dagegen haben wir uns immer gewehrt. Es ist interessant, dass von einigen so getan wird, dass gerade das so erfolgreiche Deutschland wegen der europäischen Politik bedroht sei. Der Euro ist stabil. Der Euro ist nicht abgestürzt, so wie viele es vorausgesagt haben.
Lucke: Nicht. Ich habe gesagt, dass die Menschen in den Krisenländern abstürzen. In Arbeitslosigkeit, die für Jugendliche zum Teil seit Jahren über 60 Prozent liegt. Und dafür muss Deutschland auch noch mit viel Geld bezahlen.
Harms: Die wichtigste Aufgabe war, einen Crash zu vermeiden. Der hätte noch viel schlimmere Konsequenzen gehabt – für alle. Sie sind der Meinung, dass das zu Lasten Deutschlands stattgefunden hat. Ich stelle fest: Deutschland geht es besser als allen anderen Ländern.
Hört sich so an, als sei das Problem aus der Welt.
Harms: Nein, aber wir sind auf dem Weg, die richtigen Sachen zu machen. Dafür brauchen wir keinen europäischen Überstaat, sondern einen Unterbau für die Währung. Eine gemeinsame Fiskal-, Wirtschafts- und Geldpolitik. Und wir Grüne sind gegen die pure Sparpolitik, die vor allem von der Bundesregierung forciert wurde.
Lucke: Durch diese Wirtschafts- und Fiskalunion entsteht ja der europäische Überstaat. Schon die riesige Bankenunion wird über dreistellige Milliardenbeträge verfügen. Das wird aus dem Geld der Sparer finanziert. Die Eurokrise hat Südeuropa in die Armut gestoßen. „Auf einem guten Weg“ – das ist Hohn in den Ohren der Südeuropäer. Außerdem erleidet Deutschland große Verluste durch die Kredite, die nicht zurückgezahlt werden. Sagen Sie doch mal, dass Griechenland alle Schulden zurückzahlen wird.
Harms: Bisher hat Deutschland nichts verloren.
Lucke: Unfug. Allein die Zinsen, die Griechenland erlassen werden, machen zwei bis drei Milliarden Euro aus – jedes Jahr.
Harms: Wir haben mit Rettungsfonds wie dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und dem temporären Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) nicht in erster Linie die Griechen gerettet…
Lucke: …sondern die Banken….
Harms: …sondern versucht, uns selbst aus dem Sumpf herauszuziehen. Was wir bis jetzt in Ländern wie Griechenland gemacht haben, hat die Banken und den Euro stabilisiert.
Lucke: Richtig. Und Griechenland ruiniert.
Harms: Das hat aber nicht dazu beigetragen, dass die wirtschaftliche Situation besser geworden ist.
Lucke: Richtig.
Harms: Daraus ziehe ich aber andere Schlüsse. Das heißt nicht, die müssen aus dem Euro raus, sondern es muss etwas gegen die Wirtschaftskrise getan werden.
Lucke: Die Wirtschaftskrise wurde durch die Eurorettung verursacht. Profitiert haben die Banken, die sich verzockt hatten. Das ist das Gegenteil von Solidarität, denn Solidarität soll ja denen zugute kommen, die ärmer sind als wir: Aber die griechische Bevölkerung hat nichts von der Eurorettung, und die noch ärmeren osteuropäischen Staaten fragen sich ohnehin, warum sie nicht auch mal viel Geld kriegen. Der Kern des Problems ist, dass Griechenland mit dem Euro nicht klarkommt und deshalb sollten man sagen: Ihr dürft raus aus dem Euro oder Ihr könnt drinbleiben, aber wie Ihr Euch auch entscheidet: Eure Schulden müsst Ihr selber bezahlen.
Harms: Es ist wirklich schade, dass Sie nicht vorher zum Welt- und Euroretten gekommen sind. Es ist tollkühn, von heute aus so über die ersten Entscheidungen in dieser Finanzkrise zu reden.
Lucke: Man wird Falsches ja wohl noch kritisieren dürfen. Es war falsch, den Steuerzahler für alles zahlen zu lassen, während die Eigentümer der Banken und die großen Anleger schadlos ausgingen. In anderen Schuldenkrisen hat man erstmal die Bankeigentümer bluten lassen.
Harms: Es ist idiotisch, so zu diskutieren.
Lucke: Warum?
Harms: Weil es keiner Klärung dient. Sie reden über eine Situation kackfrech, in der niemand wusste, wie das funktioniert, wenn man die Banken stürzen lässt. In den USA ist alles in die Grütze gegangen und sie sagen: Och, hätten sie doch die doch erst mal rannehmen sollen, diese Banken. Mit der Bankenunion, dem neuen Abwicklungsfonds für Banken, sorgen wir jetzt dafür, dass in Zukunft die Steuerzahler nicht mehr blechen müssen.
Was ist mit dem von einigen bemängelten Demokratiedefizit?
Lucke: Demokratie ist ein Schwachpunkt der EU. Aber sonst ist sie im Grundsatz ein großartiges Projekt gewesen…
Gewesen?
Lucke: Ja, gewesen.
Bedienen Sie nicht Vorurteile damit? Machen Sie es sich damit nicht etwas leicht?
Lucke: Die EU ist eigentlich gut, aber seit einigen Jahren gibt es schwere Fehlentwicklungen, die man korrigieren muss.
Harms: Wir sind dabei.
Lucke: Das sagen Sie immer, aber es passiert nichts.
Harms: Leider haben die Grünen nicht die Mehrheit in der EU. Aber ich finde die Position, dass die EU mal erfolgreich war und die Finanzkrise alles zerstört, destruktiv. So kommen wir nicht weiter.
Die Bevölkerung nimmt die EU als eingreifend in den Alltag wahr. Ist das auch ein Grund für den Vertrauensverlust?
Lucke: Seitdem das EU-Parlament direkt gewählt wird, kritisieren die Altparteien die Bürokratie und Regulierung der EU. Aber nie haben sie etwas geändert.
Harms: Die europäische Verwaltung ist kleiner als die Stadtverwaltung von München. Sie ist eine junge, engagierte Verwaltung. Kommen Sie mal nach Brüssel.
Lucke: Ich komm‘ schon nach Brüssel, keine Sorge.
Steckt hinter dem Unbehagen an solchen Details nicht etwas anderes: das Gefühl, dass alles vorgeschrieben wird?
Harms: Ich finde richtig, dass zum Beispiel dank EU-Richtlinien neue elektrische Geräte immer weniger Strom verbrauchen.
Lucke: Ich weiß nicht, warum man Glühbirnen verbieten muss. Strom ist teuer. Glühbirnen kann man ausknipsen. Lassen Sie doch dem Verbraucher die Wahl. Und die angeblich so kleine EU-Verwaltung: Warum gibt sie ständig Verordnungen raus, für die es keinen Bedarf gibt?
Frau Harms, haben Sie eigentlich Angst vor Leuten, die den Menschen die EU madig machen?
Harms: Ich finde, dass es ein wahnsinnig billiges Wahlkampfkonzept ist, die europäische Idee schlecht zu machen und schlecht über die europäische Verwaltung zu reden. Das ist ein Masche, die von extremeren Parteien, insbesondere am rechten Rand, gepflegt wird.
Lucke: Das musste ja noch kommen. Aber es ist auch eine Masche, den Gegner als rechts zu diffamieren, wenn man keine Argumente hat.
Harms: Ja, ihre Kampagne ist Anti-Euro und damit antieuropäisch. Sie lassen an der europäischen Politik kein gutes Haar. Gerade Deutschland würde es ohne die EU gesellschaftlich und wirtschaftlich viel schlechter gehen.
Das Gespräch führten Thomas Janssen und Benjamin Piel.