Bevor Sie sich umbringen, rufen Sie an!

  • Kuska
Wenn Sie in diesen Tagen eine weiße Kerze in die Hand gedrückt bekommen: Wundern Sie sich nicht. Es geht um Selbstmord. Und zwei Telefonnummern fürs Leben.
08.09.2014
Sylvia Kuska

„Bevor Sie sich umbringen, rufen Sie mich an!“ Acht Wörter. Dazu eine Rufnummer. Gedruckt in einer Annonce, 1953 in London. Die Zeitungen sind noch druckfrisch, da meldet sich der erste bei Chad Varah, einem britischen Pfarrer. Freizeichen. Anruf. Freizeichen. Anruf. Den ganzen Tag. Er gilt als Geburtsstunde der Telefonseelsorge.

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Freizeichen. Anruf. Freizeichen. Anruf. Irgendwo, hinter einer der Fassaden in der Stadt, ist das auch in Schwerin Alltag. 24 Stunden lang. Sieben Tage die Woche. Es ist ein geheimer Ort. Nur zwei Telefonnummern führen zu ihm: 0800 1110111. Und 08001110222.

Bevor die Seelsorger die Bürotür aufschließen, sind sie Banker, Hausfrauen, Lehrer, Anwälte, Hausmeister, Verkäuferinnen. Nachdem sie hinter ihnen ins Schloss fällt nur eine Stimme am Telefon. Vier Stunden lang. Dann ist Schichtwechsel.

"Können Sie bei mir bleiben, bis Sie nichts mehr hören?"

Wenn es klingelt, ruft das Leben an in all seinen Facetten. Die zweifache Mutter, die Mitte des Monats nicht mehr weiß, wie oft sie den Euro bis zum Monatsende noch umdrehen soll. Der junge Mann, dem Liebeskummer die Luft zum Atmen nimmt. Die Oma, die sich vor nichts mehr fürchtet, als ins Pflegeheim zu müssen. Das Mädchen, das kaum Auszuhaltendes über die Treffen mit ihrem Onkel erzählt. Der Mann, der sagt, er habe Tabletten genommen und fragt: „Können Sie bei mir bleiben, bis Sie nichts mehr hören?“

All das auszuhalten, lernen die Seelsorger in einer einjährigen Ausbildung, ständigen Weiterbildungen und Supervisionen. In Rollenspielen üben sie, zuzuhören, behutsam nachzufragen. Die Fahne der Hoffnung hochzuhalten, ohne die Probleme klein zu reden. Aber auch, den Wunsch, dem Leben ein Ende zu setzen, zu respektieren.

Den Notarzt rufen, so, wie Freunde und Angehörige es vermutlich auch gegen den Willen des Mannes getan hätten, dürfen die Seelsorger nicht. Außer, der Anrufer bittet darum, sagt Uta Krause, Leiterin der Telefonseelsorge Schwerin. Der Mann wollte nicht. Die Mitarbeiterin, die den Anruf entgegennahm, sei am Hörer geblieben, bis es am anderen Ende ganz still war.

Suizid im Alter - ein großes Thema, ein noch größeres Tabu

Jedes Jahr bringen sich in Deutschland rund 10.000 Menschen um. Das sind mehr als bei Verkehrsunfällen, Mord und Totschlag und durch Drogen zusammen gerechnet sterben. In Schwerin setzten im vergangenen Jahr 17 Frauen und Männer ihrem Leben ein Ende. In MV waren es 192 Menschen. Fünf davon waren noch Kinder. Wie viele es versucht haben: Man weiß es nicht.

Eine Altersgruppe sticht in Statistiken besonders heraus: Menschen über 60 Jahre. Einsamkeit, Angst vor dem Heim, Sorgen, Angehörigen zur Last zu fallen, verdrängen die Lust am Leben. Nicht in Zahlenwerken auftauchen all jene, die einfach aufhören zu essen. Zu trinken. Ihre Medizin zu nehmen. Stillen Suizid begehen.

Zurück bleiben Angehörige. Quälende Fragen. Schuldgefühle. Seelische Not. Ein schweres Erbe. Darüber zu sprechen gelingt kaum. Im Mittelalter verbannte Selbstmord Angehörige aus der Gemeinschaft. „Bis heute ist Selbstmord ein gesellschaftliches Tabu“, sagt Uta Krause.

Die Leiterin der Telefonseelsorge hat in den vergangenen Wochen viele Klinken geputzt. Für eine Aktion, die das Thema für zwei Tage unübersehbar in die Stadt holt. Markt, Stadthaus, Marienplatz, Dreescher Markt, Platz der Freiheit, Ärztehaus in der Rahlstedter Straße - überall dort werden am Dienstag und Mittwoch Kerzen an Passanten verschenkt. 5000 insgesamt. Zusammen mit dem Wunsch, sie am 10. September – dem Welttag der Suizidprävention - anzuzünden und um 21 Uhr ins Fenster zu stellen. Als Zeichen der Verbundenheit.

Noch ein Telefon? Zu teuer!

Freizeichen. Anruf. Freizeichen. Anruf. Zu den Seelsorgern durchzukommen, gelingt nicht immer beim ersten Mal.  „Der Wunsch nach einem Gespräch ist zehnmal zu hoch“, sagt Uta Krause. Sie spricht aus bundesweiter Sicht. Würde aber auch in Schwerin mehr Leitungen zuschalten, wenn sie könnte. Anderthalb sind es jetzt. Um ein Telefon rund um die Uhr zu besetzen, braucht sie 70 Mitarbeiter. Das Problem liege nicht darin, noch mehr ehrenamtliche Seelsorger zu finden. Diese müssen aber von hauptamtlichen Psychologen, Theologen, Sozialpädagogen begleitet werden. 2,5 Planstellen wären allein für die anderthalbe Leitung nötig. „Wir haben eine!“, sagt Uta Krause.

„Mir geht es gut.“ Seltene Worte. Wenn die Seelsorger auflegen, wissen sie normalerweise nicht, was am anderen Ende der Leitung, irgendwo in der Stadt, passiert. „Ich bin wieder fröhlich“, schiebt die Anruferin hinterher, erinnert sich Uta Krause. „Wenn Sie nicht gewesen wären, wäre ich nicht mehr.“ Krisen zu meistern, auch das ist eine Facette des Lebens. Oder wie es auf dem Flyer zum Aktionstag formuliert ist: „Nimm dir das Leben und mach was draus!“
 

Die Aktionen zum Welttag der Suizidprävention

Dienstag, 17 Uhr, Demmlersaal im Rathaus
Vortrag zum Thema „Suizidalität im sozialen Umfeld – Hinweise und Handlungsmöglichkeiten“. Referent: Prof. Dr. Andreas Broocks, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Helios-Kliniken Schwerin. Der Vortrag richtet sich an alle, die im persönlichen Umfeld betroffen sind. Anschließend können in einer Gesprächsrunde Fragen gestellt werden.

Mittwoch, 10 bis 12 Uhr, SVZ-Lesertelefon
Unter den Telefonnummern 0385/6378- 8007, -8008 und -8009 nehmen Experten am Lesertelefon der Schweriner Volkszeitung Ihre Fragen entgegen.

Die Aktionen sind eine Initiative der Telefonseelsorge, Anker Sozialarbeit, des Gesundheitsamts, des Seniorenbeirats und der Caritas.