

Ich bin dann mal weg - Schweriner weltweit
Es gab eine Zeit in meinem Leben, da hatte ich einen nervösen Zeigefinger. Mit dem tippte ich jeden Morgen wie wild auf der Sendersuchtaste meines Autoradios herum. NDR2 meldete keinen Stau auf der Strecke, auf der ich unterwegs war. Der Sender muss den ganzen Norden mit Staumeldungen beliefern, dachte ich mir, lässt vielleicht manches aus Mecklenburg-Vorpommern weg. Also weitergedrückt zu Antenne MV: auch nix. Ostseewelle: null. Im Radio kein Stau, in der Wirklichkeit, also auf der Bundesstraße 321, auf der ich 2006 täglich zwischen Schwerin und Parchim pendelte, ebenso wenig. Einige Wochen später ließ ich das Getippe sein, denn ich hatte eines verstanden: Ich lebte nun in einem Land, für den das Wort „Stau“ ein Fremdwort und die Autoschlangen vor dem Rügendamm ein allsommerliches Ausnahmeereignis waren.
Es lebte sich ganz gut ohne Stau in Mecklenburg. Oft war ich alleine auf der B 321, meine Fahrt bremsten höchstens Mähdrescher und Traktoren. Das Tempo reduzieren musste ich auch in Dörfern, die nur aus fünf Häusern bestanden. Vorher war mir nicht bewusst gewesen, dass es so kleine Nester überhaupt gibt. Mein ignorantes Unwissen lässt sich biografisch erklären: Ich bin in Wiesbaden aufgewachsen, einer Stadt im Rhein-Main-Gebiet, in dem etwa fünf Millionen Menschen wohnen, die jeden Tag das gut ausgebaute Autobahnnetz verstopfen. Vor sechs Jahren bin ich aus Schwerin zurück nach Wiesbaden gezogen, der Arbeit wegen. Und auch wegen der Familie: Mit kleinen Kindern ist es ein Standortfaktor, Großeltern in der Nähe zu haben. Schwerin hatte beides nicht: keine (gut bezahlte) Arbeit und auch keine Großeltern. Deshalb wäre es gelogen, zu sagen, ich hätte Schwerin mit „einem weinenden Auge“ verlassen.
Ich bin kein überschäumender Lokalpatriot, aber es ist schon ganz in Ordnung, in Wiesbaden zu wohnen. Es gibt hier alles, was man braucht, und wenn man davon doch mal genug hat, kann man über den Rhein nach Mainz fahren, eine Stadt, die auch ihre Vorteile hat. Auf die ich an dieser Stelle aufgrund der Städterivalität aber nicht eingehen kann (es könnten andere Wiesbadener mitlesen). Wenn man sich den Duft einer Weltstadt um die Nase wehen lassen will, nimmt man die S-Bahn und steht 40 Minuten später mitten in Frankfurt. In der anderen Richtung liegt der Rheingau, das bezaubernde Weinbaugebiet am Rhein. Wenn dort die Sonne auf dem Fluss glitzert, dazu ein Gläschen Riesling, hat das schon was von Lebensqualität.
In der Kürze liegt die Würze
Hier ist aber jetzt der Punkt erreicht, an dem Wiesbaden samt Umland mit Schwerin nicht mithalten kann. Egal, wo man in Schwerin wohnt, ist man zu Fuß in wenigen Minuten an einem See. Das Schloss, der Blick auf den weiten Schweriner See, die reine Luft. Das Urlaubsgefühl liegt vor der Haustür, herrlich im Sommer. 45 Autominuten bis zum Boltenhagener Ostseestrand – Luxus! Und diese Ruhe – davon können wir Rhein-Mainer nur träumen. Bahnlärm, Autobahnlärm, Fluglärm: Die Bewohner haben einiges zu ertragen, was aber wohl der Preis für Wohlstand und Arbeitsplätze ist.
Wenn ich gefragt werde, wie es denn so ist in Schwerin (ich habe hier noch keinen getroffen, der schon einmal dort war), dann schwärme ich vom sommerlichen Schwerin. Mein „Aber“ bezieht sich auf die dunkle Jahreszeit: Ich fand es an trüben und regnerischen Tagen besonders deprimierend, an grauen Seen entlang zu spazieren, die Bäume ohne Blätter, die peitschenden Windböen. In Wiesbaden schlägt mir die winterliche Einöde der Natur nicht ganz so aufs Gemüt.
Wiesbaden und Schwerin haben aber auch eine Gemeinsamkeit. Ihrem Status als Landeshauptstadt und Nicht-Universitätsstadt haben sie es zu verdanken, dass es zwar jede Menge Beamte, aber kaum Studenten gibt. Schläfrig, so wird Wiesbaden gerne betitelt. Ich finde, auf Schwerin passt das Adjektiv auch ganz gut. Was aber nicht ausschließlich negativ gesehen werden sollte: Man hat - vom Verkehrslärm in Wiesbaden abgesehen - seine Ruhe. Wer studentisches Lebensgefühl atmen möchte, fährt nach Mainz (jetzt habe ich die Stadt auf der falschen Rheinseite doch gelobt), in Schwerin haben wir ab und zu Rostock besucht.
Altes wiedererkennen und Neues entdecken
Ich gestehe: Ich habe nicht das Bedürfnis, Schwerin jedes Jahr zu sehen. Aber alle zwei bis drei Jahre machen wir als Ostsee-Urlauber einen Tagesausflug in die Stadt, um Altes wiederzuerkennen und uns an Neuem zu freuen: Die Uferpromenade an der Graf-Schack-Allee etwa ist dank Bundesgartenschau wirklich sehr schön geraten.
Nach sechs Jahren Wiesbaden weiß ich inzwischen, dass es auch hier, keine halbe Autostunde entfernt, im Taunus Dörfer mit fünf Häusern gibt. Das war mir früher nie aufgefallen. Fünf Radminuten habe ich täglich zur Arbeit in die Innenstadt zu fahren, abbremsen muss ich nur für Ampeln und unaufmerksame Autofahrer. Müsste ich täglich mit dem Auto fahren, bräuchte ich nicht einmal meinen nervösen Zeigefinger zu neuem Leben erwecken: Mein rechter Daumen hat den Dienst übernommen und drückt vor jeder Fahrt auf die Stau-App auf meinem Smartphone.
Kennen auch Sie jemanden, der aus Schwerin in die Ferne gezogen ist und uns seine Geschichte erzählen möchte? Dann schicken Sie uns eine E-Mail an redaktion@dieschweriner.de. Wir freuen uns auf Ihre Post!