
Als Schwerin erwachte
„Du kommst doch, heute Abend!“ Schulz nickte dem Langen zu, natürlich würde er mitgehen. Schulz selbst hatte diese Frage heute auch schon gestellt. Eine Frage mit Ausrufezeichen, die an diesem Montag das Guten Morgen ersetzte. Heute sollte auch Schwerin erwachen.
Der Lange tauschte eine Blechmarke gegen einen Winkelschleifer. Schulz schloss die Luke der Werkzeugausgabe. Meine kleine DDR wird er sein kleines Reich später nennen, weil man anhand dieser 30 Quadratmeter so anschaulich das Dilemma der sozialistischen Wirtschaft erklären konnte. Den Mangel, der gebot, das Wenige, das da war, zu bewachen. Das Volkseigentum musste vor dem Volk geschützt werden. Schulz war Verwalter des Elends, streng genommen überflüssig, als Hüter des Grals aus Bohrer, Bügelmessschrauben und zwei handlichen Winkelschleifern aus Japan, die ihre zahlenmäßig überlegene Konkurrenz aus Bulgarien in den Schatten schliffen. Schulz hatte sich eingerichtet in seiner Nische, mit einer Arbeit, die den Namen nicht verdiente, die Übergang sein sollte, bis zum Studium.
„Du gehst doch heute Abend nicht da hin!“, an der Luke stand der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung, der BGLer. Der hatte sich noch nie hierher verirrt, fingerte am Kragen, wollte die Antwort nicht hören.
„Wohin?“, fragte Schulz. Der BGler marschierte weiter durch die Halle, in der Hämmer Stahl zu Kränen formten. Schiffskräne, die sehen würden, was ihre Baumeister nicht sehen durften: die Welt.
Der Lange trommelte an die Luke: „Du hast dich doch nicht bequatschen lassen?“
Schulz grinste. Der BGLer stand schon wieder vor der Luke: „Du kommst doch heute Abend?“
„Ich dachte, ich soll nicht.“
Der BGLer quälte sich mit seinen neuen Instruktionen: „Ich meine, nicht zu denen, zu uns.“
„Die?Und was heißt hier uns?“ Luke runter. Der Gewerkschafter taumelte durch die Halle wie eine Kugel im Flipperautomaten. Abgeschossen oben in der Werksleitung, versuchte er nun, unten zu punkten, prallte immer wieder ab, landete im Aus.
Luke hoch. Der Lange war besorgt: „Du gehst nicht dahin?“
„Nein!“, Luke runter.
Inzwischen hatte es sich herumgesprochen. Die Bezirksparteileitung versuchte, auf den fahrenden Zug zu springen, scharte treue Genossen um sich, rief zur Gegenkundgebung auch auf den Alten Garten. Genossen wurden mit Bussen aus den Kreisen des Bezirkes herangekarrt. Die anderen machten sich selbst auf den Weg. Es war ein absurdes Theater vor dem Theater. Der Alte Garten platze aus allen Nähten. Auf der einen Seite schnarrten Parolen aus Lautsprechern, auf der anderen Seite sammelte sich die Bürgerbewegung. Dazwischen eine wankende Menge.
Schulz stolperte durch die Stadt, wollte in den Dom zum Friedensgebet. Die Kirche war hoffnungslos überfüllt. Davor drängten sich die Menschen. Schulz wartete mit der Menge auf dem Markt, bis sich der Menschenstrom aus dem Dom in die Stadt ergoss, sich zwischen den Häusern kanalisierte, zum Alten Garten floss, Zaudernde und Zögernde mit sich riss. Die Menge machte weichen Beinen Mut. Die ganze Stadt geriet in Bewegung. Das Neue Forum bekam kein Rederecht auf der Bühne der Partei, überließ den Alten Garten den alten Parolen, nahm seine Anhänger mit zu einem Protestmarsch und vereinte sich mit dem Strom vom Friedensgebet zur größten Montagsdemonstration im Norden. Nur wenige blieben zurück. Schulz suchte seine Kollegen, im Zug. Fand sie, verlor sie wieder. Man sprach miteinander, redete sich mutig. Man traf alte Freunde, man fand neue. Schulz verspürte weder Angst noch Freude. Es war ein seltsames unbeschreibliches Gefühl an diesem Abend.
Die Nacht schluckte das Licht. Immer mehr Kerzen wurden angezündet, flackerten durch den Zug. Schulz kleckerte sich die Finger und die Jacke voll Wachs. Der Strom floss über den Ziegenmarkt, die Kirchenstraße hoch zum Schelfmarkt. Die Kirchenstraße war schmal, da wohnte Schulz, da parkte sein Motorrad vor der Tür. Zehntausende Menschen quetschten sich vorbei, der Maschine wurde nicht ein Spiegel gekrümmt.
Nachbarn standen am Straßenrand, hatten ihre Kleinkinder auf die Motorhaube ihres altersschwachen Skodas gesetzt. Sie winkten dem Zug. Schulz winkte zurück. Vom Schelfmarkt erklang Jubel – wie im Stadion nach einem Tor. Auf der Nordseite des Marktes strömte ein anderer Teil des Zuges zurück zum Alten Garten. Also runter zum Pfaffenteich und die nächste Straße wieder hoch, dachte Schulz, wurde aber eines Besseren belehrt. Der Zug ging um den Pfaffenteich herum und dann erst wieder zurück. Unglaublich, unschätzbar, diese Menschenmassen, friedlich demonstrierend.
Schulz entdeckte vor sich einen Kollegen, ein Nervenbündel. Er schob sich hinter ihn, legte ihm die linke Hand auf die Schulter, drückte ihm den Zeigefinger der rechten in den Rücken und zischte: „Kommen sie mal unauffällig mit zur Seite...“
Die Angst marschierte mit. Dem Armen schoss das Blut in die Wangen. Schulz legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter, sie lachten den Scherz weg. Zum Glück hatte keiner etwas bemerkt, es war keine gute Zeit für schlechte Witze. Wer noch einen Kerzenrest hatte, klebte ihn am Pfaffenteich ans Arsenal, der Heimstatt von Polizei und Sicherheit. Die Flammen malten rußige Flecke auf das damals weiße Gebäude.
Schulz hatte Geschichte geschrieben an diesem Tag, es war ihm nicht bewusst. Er war kein Held, lief nicht vornweg. Aber er war aufgestanden, war losgegangen mit dem Langen, mit den Freunden und Kollegen, mit Hunderttausenden in der DDR. Sie haben nicht geahnt, was sie damit auslösen, dass ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt wird.
Jahre später hat Schulz seine Kollegen wiedergesehen. Er war inzwischen Zeitungs-Redakteur, suchte Bilder für diesen historischen Tag. Und da standen sie im Vordergrund, guckten ernst in die Kamera: Der Lange und die anderen. Man
hatte sich aus den Augen verloren. Sich nur zufällig wiedergetroffen. Nur wenige waren im Betrieb geblieben, hatten letzte Kräne gebaut, dann Windräder, reisten ihnen als Servicetechniker hinterher durch die Welt. Einer hat sich als Schlossermeister selbstständig gemacht, andere fanden ihr Glück im Westen, wo Maschinenbau Tradition hatte,wo man gute Fachkräfte suchte.
Nicht alle hatten Glück, Arbeitsplätze gingen verloren, Familien in die Brüche. Und trotzdem, sie würden wieder Ja sagen, wenn man sie fragen würde: „Du kommst doch, heute Abend!“