Das Neue Forum in der Paulskirche

  • Hans-Dieter Hentschel
    Schwerin 1989: Blick über die Stadt zur Paulskirche
Ein Vierteljahrhundert danach. Die NDR-Redakteure Siv Stippekohl und Thomas Balzer haben eine Zeitreise durch die Wendezeit gemacht. Herausgekommen sind Beiträge für Rundfunk und Fernsehen und ein Buch, ein „Atlas des Aufbruchs“. Darin auch Schweriner Geschichte erzählt in Schweriner Geschichten. Wir freuen uns, ein paar Kapitel präsentieren zu dürfen.
24.11.2015
dieschweriner.de

Im dritten Bauabschnitt der Plattenbausiedlung Großer Dreesch steht eine moderne evangelische Kirche – eine Konzession des sozialistischen Staates an die mecklenburgische Landeskirche, da sie mit harter D-Mark der westdeutschen Partnerkirchen gebaut worden ist. Der neue Schweriner Stadtjugendwart Wolfram Grafe will Ende 1988 den Kirchenboden nutzen. Die Gemeinde zieht mit, viele junge Leute helfen bei den Handwerksarbeiten. Am 7. Oktober 1989 ist die Einweihungsparty. Die Petruskirche und das Obergeschoss sind rappelvoll. Der Jugendboden heißt »Oase«. Das versteht jeder. Der Kreis der Ehrenamtlichen will Geborgenheit geben, offen sein, Themen besprechen, die nirgends in Schwerin ausgesprochen werden, und Spaß haben. Irgendwann kurz nach 22:00 Uhr kommt einer der Pastoren aus dem Pfarrhaus herüber. Er hat im Westfernsehen erste Bilder aus Berlin gesehen – von prügelnden Volkspolizisten und hunderten Verhaftungen rund um den Palast der Republik, in dem Honecker mit seinen Staatsgästen den 40. Jahrestag der DDR-Gründung feiert. Die Tanzmusik wird abgestellt. Der Stadtjugendwart bricht die Eröffnungsparty ab. Der Republikgeburtstag und der kleine Jugendboden in Schwerin – am 7. Oktober gehen alle aufgewühlt nach Hause. Für die hauptamtlichen kirchlichen Mitarbeiter in Schwerin sind es aufregende Tage. Lässt sich der immer höher werdende Druck staatlicher Stellen ertragen? Als am 2. Oktober das Neue Forum im Gemeindehaus der innerstädtischen Paulskirche ein erstes stadtweites Treffen abhalten will, werden die Pastoren bereits im Vorfeld von staatlicher Seite zur Absage des Termins aufgefordert. Als der Abend dann wegen des großen Andrangs von über 200 Menschen in die Paulskirche verlegt wird, überzieht sie der Rat des Bezirks Schwerin mit Ordnungsstrafverfahren. Können die kirchlichen Mitarbeiter überhaupt noch für die Sicherheit der Menschen bei ihren Veranstaltungen bürgen? Die Entscheidung, die »Oase«-Eröffnung am 7. Oktober abzubrechen, ist eine klare politische Entscheidung von Pastor und Stadtjugendwart gewesen – angesichts der Brutalität in Berlin. Die Aggressivität des Schweriner SED-Apparates ist einen Tag zuvor in der Paulskirche deutlich geworden. Nachdem sich das Neue Forum am 2. Oktober als Plattform gegründet hat, soll es am 6. Oktober in der Paulskirche einen Informationsabend der Evangelischen Jugend zu neuen poli tischen Initiativen in der DDR unter dem Motto »Blickpunkt« geben. Unabhängig davon arbeiten etwa 20 Arbeitsgruppen des Neuen Forums zu gesellschaftpolitischen Themen in Hauskreisen im Stadtgebiet und den angrenzenden Dörfern. Mitgliedslisten des Neuen Forums kursieren im Pfarrhaus der Paulskirche, bei der Mitbegründerin des Neuen Forums Uta Loheit, die in der Domgemeinde arbeitet, und beim Schweriner Staatstheater. Das Positionspapier des Neuen Forums vom Gründungswochenende im September 1989 hat der Bauingenieur Martin Klähn aus Grünheide bei Berlin mitgebracht. Er ist der einzige Norddeutsche, der den Aufruf unterschrieben hat. Die Sekretärinnen des Wohnungsbaukombinats im Schweriner Marstall, bei dem Martin Klähn beschäftigt ist, tippen fleißig weitere Exem plare. Am 6. Oktober kann jeder, der es möchte, das Papier des Neuen Forums in der Paulskirche lesen. Zu einer Diskussion unter den etwa 1500 Menschen kommt es nicht. Der Greifswalder Studentenpfarrer Arndt Noack, gerade auf der Durchreise zur Gründung der neuen Sozialdemokratischen Partei in der DDR, soll sprechen. Aus Berlin wird der Physiker Sebastian Pflugbeil vom Neuen Forum erwartet. Für die evangelische Kirche spricht der Chefredakteur der Kirchenzeitung, Hermann Beste. In den Kirchenbänken sitzen 200 von der SED bestellte Störer. Sie sorgen für einen ohrenbetäubenden Lärm, lassen niemanden ausreden, setzen die Mikrofonanlage außer Betrieb. Durch das Fenster der Sakristei sehen einige der 30 Mitglieder des Vorbereitungskreises Volkspolizeiautos vorfahren. Jugendwart Wolfram Grafe hat die Situation fünf Jahre später während einer NDR-Veranstaltung aus seiner Sicht als kirchlicher Mitarbeiter so beschrieben: »Wir waren zum ersten Mal nicht mehr unter uns. Und wir hatten zum ersten Mal auch eine Ahnung davon, wo das alles in Schwerin auch enden könnte.« Zu der Schlussaktion, die Forderungen der Bürgerbewegung auf Tapeten zu schreiben und sie von der Empore zu entrollen, kommt es nicht. Der Anblick wäre auch zu schön gewesen, hat doch der SED-Chefideologe Kurt Hager im April 1987 in einem Interview der bundesdeutschen Illustrierten Stern auf die Frage nach Gorbatschows Reformen in der Sowjetunion mit der Gegenfrage geantwortet: »Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?« Die Schweriner Stasibezirksverwaltung feiert sich in einem Bericht vom 7. Oktober 1989, sie hätte das Neue Forum verunsichert. »Der politisch offensive Einsatz der gesellschaftlichen Kräfte, schwerpunkt mäßig aus der Bezirksparteischule, dem FDGB-Bezirksvorstand, dem Rat des Bezirkes und dem Rat der Stadt  sowie des Bereiches Volksbildung, dem Institut für Inge nieurpädagogen Schwerin ist so wirksam geworden, dass die feindlich-negativen Organisatoren ihre organisatorisch-inhaltliche Initiative und Veranstaltungsführung verloren haben.« Auch an Erich  Honecker an der SED-Spitze in Berlin wird diese Sicht auf die Ereignisse weitergeleitet. Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Heinz Ziegner glaubt allen Ernstes, dass ein offensives Auftreten mit gut vorbereiteten Genossen als gezielte politische Aktion ausreicht, der Bürgerbewegung Einhalt zu gebieten.

Vielen Dank an die Autoren.

Zum Buch geht es hier.