
Es war einmal in Schwerin...
Das Willy Brandt Forum Schwerin hatte zu einem informativen Spaziergang eingeladen. Los gings am Landgericht Demmlerplatz.
Hier hatte nach dem Krieg das sowjetische Militärtribunal seinen Sitz. Wer in dem Gebäude vor seinem Richter stand, hatte nichts Gutes zu erwarten. Zu den Angeklagten zählte 1948 der bekannte Schriftsteller Walter Kempowski. Ihm wurde wegen „Nichtanzeigen von Agenten ausländischer Geheimdienste“ der Prozess gemacht. Das Urteil lautete 25 Jahre Lagerhaft. Die Verhandlung wurde in russischer Sprache geführt - Kempowski verstand nichts. Erst als er wieder in seiner U-Haftzelle saß, klärte ihn der Wachsoldat über das Strafmaß auf.
In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, so weiß Klähn zu berichten, bezog dann die Bezirksbehörde des Ministeriums für Staatssicherheit den Gebäudekomplex. Im Innenhof befand sich ein Gefangenenhaus für Untersuchungshäftlinge. In verdunkelten B 1000 Bussen wurden die Angeklagten herangekarrt. Die 30-35 Einzelzellen waren ebenso abgedunkelt. Die Gefangenen wussten nicht, wo sie sich befanden. Allein diese Vorkehrungen trugen zur Verunsicherung bei. An diese unsäglichen Zeiten erinnert eine Gedächtnistafel vor dem heutigen Gerichtsgebäude.
Während der Montagsdemos 1989 gehörte die Stasizentrale nur einmal im November zur Route. Die Veranstalter wollten Provokationen bewusst vermeiden. Die Schweriner Volkszeitung vermeldete, dass ein Mann an das Gebäude urinierte. Mehr war über die Demonstration nicht zu erfahren. Im Dezember versammelten sich erneut hunderte Menschen am Demmlerplatz. Eine Ihrer Forderungen lautete: Stasi in die Produktion.
Auf dem Gang durch die Altstadt steuern wir auf die Paulskirche zu. Im Keller unter dem Chor befindet sich der Gemeinderaum. Hier traf Klähn mit Gleichgesinnten zusammen, hier wurde diskutiert, abgestimmt, das Neue Forum aus der Taufe gehoben. Am 18. September meldeten Bürgerrechtler beim Rat des Bezirkes Schwerin, Abteilung Inneres, die Gründung des Neuen Forums an. Doch Pustekuchen. Nach 10 Tagen Frist wurde der Antrag abgelehnt. Die Frauen und Männer ließen sich jedoch nicht einschüchtern und trafen sich fortan einmal wöchentlich in Privatwohnungen. Als die Teilnehmerzahl der Veranstaltungen die Größe der Räumlichkeiten sprengte, stellte die Paulsgemeinde ihren Gemeinderaum in der Bäckerstraße zur Verfügung. Doch auch dieser konnte den Zustrom der unzufriedenen Bürger nicht fassen. Schließlich versammelten sich am 2. Oktober 1989 800 Sympatisanten des Neuen Forums in der Paulskirche.
Von hier ging auch das Signal zur ersten Montagsdemo am 23. November in Schwerin aus. Im Kirchenkeller wurde am Mittwoch dem 18. Oktober die Entscheidung gefällt, für den kommenden Montag bei der Volkspolizei eine Demonstration anzumelden.
Wenn Martin Klähn in Erinnerungen schwelgt, dann ist es vor allem die euphorische und doch friedliche Stimmung dieser Wendetage, die in ihm haften geblieben ist.
Wir spazieren zum Dom. Vorbei an der ehemaligen Pass- und Meldestelle der Volkspolizei in der Moritz-Wiggert-Straße – hier mussten früher Ausreiseanträge eingereicht, Westbesuch und Pässe angemeldet werden. Hier gab es auch den berühmten Stempel in den Personalausweis, der in den Tagen nach der Grenzöffnung eingeholt werden musste. Die Warteschlange reichte hunderte Meter weit, fast bis zum Pfaffenteich.
Vorbei am Kino Capitol, wo 1946 der regionale Vereinigungsparteitag zwischen KPD und SPD stattfand.
Vorbei am Arsenal, der ehemaligen Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei. Wahrend der ersten Montagsdemo stellten unzählige Teilnehmer brennende Kerzen in den Eingangsbereich, um ihre friedlichen Absichten unter Beweis zu stellen.
Martin Klähn erinnert sich mit Genugtuung daran, dass der Demonstrationszug um den ganzen Pfaffenteich reichte. „Es war unvorstellbar, dass rund 30 000 Menschen damals unserem Aufruf zum friedlichen Protest gefolgt sind.“
Angekommen am Dom erfahren wir, dass die friedlichen Proteste schon Anfang der 80er Jahre aufflammten. Hier traf man sich regelmäßig zum Friedengebet. Die so genannten Ausreiseantragsteller mischten sich mehr und mehr unter die Gemeindemitglieder. Zum Friedensgebet am 23.Oktober kamen dann ungeahnte Menschenmassen. Pastor Sagert wird mit den Worten zitiert: „Der Dom war so voll, dass er schwitzte.“ Und wirklich, die Fenster des Gotteshauses waren vom Atem der Protestierenden feucht.
Unser Weg führt weiter über den Markt in die Puschkinstraße. An der Ecke zum Großen Moor saß die Kreisleitung der SED Schwerin Stadt. Martin Klähn kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen als er erzählt, dass die Parteizentrale der Stadt zum Jahresanfang 1990 einen Teil ihres Hauses räumen musste, um den neuen Parteien und Bürgerbewegungen im „Haus der Demokratie“ Räumlichkeiten zu bieten. Jetzt zählten das Neue Forum, Demokratie Jetzt!, die SDP die Grüne Liga, um nur einige zu nennen, zu den neuen Mietern.
In der Schlossstraße stehen wir vor der Staatskanzlei. Von hier aus wurde Mecklenburg seit Beginn der 20er Jahre regiert. Die NSDAP hatte hier in den dunkelsten Jahren der deutschen Geschichte ihren Sitz. Nach dem II. Weltkrieg die Landesregierung und anschließend die Bezirksleitung der SED mit ihren bekanntesten Köpfen Bernhardt Quandt und Heinz Ziegner. Übrigens bezog der erste Ministerpräsident Alfred Gomolka (CDU) das Dienstzimmer von Ziegner. Und auch Harald Ringstorff (SPD) und heute Erwin Sellering (SPD) schauen aus den selben Fenstern wie ihre Vorgänger auf das Schloss.
Unser Rundgang endet an der Museumstreppe, dort, wo der friedliche Massenprotest am 23. Oktober 1989 seinen Anfang nahm. Und Martin Klähn fällt noch ein, dass er damals sofort nach der Demo Bärbel Bohley in Berlin euphorisch über die unvorstellbare Teilnehmerzahl unterrichtete. Diese hatte jedoch aus der ostdeutschen Nachrichtensendung „Aktuellen Kamera“ erfahren, dass die Nationale Front in Schwerin die Massen für die Politik der SED mobilisiert hatte. Darauf Klähn erbost: „Seit wann glaubst Du der Aktuellen Kamera?“
Die Geschichte hatte ja ihr glückliches Ende gefunden...