»Nun können wir, nun müssen wir auch wollen«
»Aber dann ging die Reise ja erst richtig los«, erzählt Bodo Henning. »Man arbeitete seine Stunden, ging dann irgendwohin in ein Forum vom Neuen Forum, und das jeden Abend.« Den Mauerfall am 9. November hat er nicht wahrgenommen, »meine Frau rannte heulend vor Glück durch die Wohnung und rief: ›Die Mauer ist auf.‹ Und ich habe gesagt: ›Lass mich schlafen.‹« Ende November sei dann seine jüngste Tochter gekommen: »Bitte keine politischen Gespräche mehr am Kaffeetisch. Wir haben gar nicht mehr gemerkt, dass wir nur noch das eine Thema hatten. Aber wir mussten das alles ja auch irgendwie verarbeiten«, erzählt der Vater von drei Kindern. Sein Thema bei den Gesprächsrunden ist das Bildungssystem. In seinem Bekanntenkreis in der Schweriner Petruskirche auf dem Großen Dreesch reden sie oft darüber, wie ihre christlich erzogenen Kinder in der Polytechnischen Oberschule ausgegrenzt werden. Und als das auch seine älteste Tochter trifft, die als Einser-Schülerin nicht zum Medizinstudium zugelassen wird, schreibt er eine Eingabe an den SED-Chef Erich Honecker – erfolglos. Seine Tochter ist kein Mitglied in der FDJ gewesen. Dafür hat die Staatssicherheit die 17-Jährige aus dem Unterricht geholt: Spitzeln für den Studienplatz, so das Angebot. Die Tochter lehnt ab. Entgegen der Forderung der Stasi erzählt sie ihren Eltern davon.
»Dass die sich selbst an Kindern vergriffen haben«, sagt er, sei für ihn ein Motiv gewesen, sich im Neuen Forum zu engagieren. Auch in seinem Schweriner Betrieb, dem VEB Datenverarbeitungszentrum Schwerin, führen die Mitarbeiter, die die Ideen des Neuen Forums vertreten, Neuerungen ein und werben für Demokratie, Reisefreiheit und freie Wahlen: »Wir hatten da eine Litfaßsäule im Betrieb aufgestellt. Da hing dann der Aufruf von Christa Wolf und Christoph Hein. Und da sah man, wie die Leute unterschrieben«, erzählt Bodo Henning. Der Aufruf der beiden, dem sich weitere Intellektuelle und Bürgerrechtler anschließen, ist eine Aufforderung, in der DDR zu bleiben und nicht in den Westen abzuhauen. Im DDR-Fernsehen trägt Christa Wolf diesen Appell am Abend des 8. November vor: Jetzt nach den großen Demonstrationen sei eine bessere DDR möglich, die gleichberechtigt als Staat neben der Bundesrepublik existieren könnte – eine sozialistische Alternative auf deutschem Boden. Tausende sind noch im November über die ˇCSSR in die Bundesrepublik geflohen. Im Nachbarland herrscht Unmut über diesen Zustand. Am 9. November morgens ist der Appell im Neuen Deutschland nachzulesen. Der Aufruf wird bereits wenige Stunden später verpuffen. Die Grenztore werden noch am Abend geöffnet. »Da uns dieser Aufruf nicht so ganz passte, haben wir ein Gegenpapier an die Litfaßsäule daneben gehängt. Und dann war interessant: Als die Leute das gelesen haben, haben sie ihre Namen auf dem einen Papier durchgestrichen und auf unserem unterschrieben.« Bodo Henning lacht, »die Leute waren ja auch alle verunsichert, es war keiner auf solche Sachen vorbereitet«. In diesen Tagen verschwinden auch die obligatorischen SED-Parteisekretäre aus den Betrieben, das sei ein gleitender Prozess gewesen, erinnert sich der Diplomingenieur. Bodo Henning gilt im Datenverarbeitungszentrum als Fachmann. Der EDV-Organisator und Hauptprojektant ist seit 1970 im Betrieb. Er hat sich hochgearbeitet. Abteilungsleiter, das weiß er, wird er in seinem Betrieb nicht, da er parteilos ist und sich in der Kirchgemeinde engagiert. Jetzt, im Zuge der Friedlichen Revolution, rütteln die Vertreter der Bürgerbewegung an den Grundfesten. Es ist die Zeit des großen Umbruchs im VEB Datenverarbeitungszentrum Schwerin, »alle Direktoren- und Abteilungsleiterstellen wurden ausgeschrieben, und es konnte sich jeder darauf bewerben. Man kam ja nicht gleich auf die Idee, sich auf den Direktorenposten zu bewerben«, erinnert sich Bodo Henning. »Aber irgendwann in dem Prozess wurde ich von einem Mitglied der dafür gegründeten Bewerbungskommission angesprochen: ob ich mir vorstellen könnte, Geschäftsführer zu werden? Ob wir alle gewusst haben, was auf uns zukommt, das wage ich im Nachhinein zu bezweifeln. Meine Frau sagte ganz eindeutig: ›Komm, mach das!‹ Denn wir haben immer gesagt, wir wollen. Und nun können wir, dann müssen wir auch wollen.« Der Betriebsdirektor ist geblieben, der ökonomische Direktor auch, »und es gab zwei neue Leitungsposten, einen für einen Kollegen aus der neu gegründeten sozialdemokratischen Partei und einen für mich vom Neuen Forum. Ich hatte den ganzen Bereich Datenverarbeitung, also das Kerngeschäft, zu führen. Wir waren Treuhand GmbH in Gründung. Und dann stellte sich heraus, dass der eine unterschrieben hatte, kein Stasimann zu sein, und das stimmte nicht. Da war die Treuhand knallhart, er war sofort raus«, berichtet Bodo Henning. Seit 1991 ist er Sprecher der Geschäftsführung. Irgendwann zieht er in das Büro des Betriebsdirektors ein, »das war dann schon die übliche Ausstattung mit Schrankwand, Couch«, berichtet der damals 47-Jährige. »Wir waren bösgläubig, dass da überall Wanzen sind, deshalb haben wir das Paneel herausreißen lassen, aber wir haben erstaunlicherweise nichts gefunden«, lacht er. Dabei hat es zu DDR-Zeiten immer geheißen: Die Mitarbeiter im Rechen zentrum seien doch alle bei der Stasi. »Wir haben dann alle überprüfen lassen. Es waren dann glücklicherweise, erstaunlicherweise sehr wenige. Die Wenigen waren hartnäckig. Wenn man sie aufgedeckt hat, hieß es nur: ›Ach, wissen Sie, bisher ist es ja gut gegangen‹«, er innert sich Bodo Henning. Er trifft einige aber später in den Dependancen westlicher Firmen hier wieder. Die Arbeitstage sind jetzt zehn, zwölf Stunden lang. Sein Mandat im Kirchgemeinderat legt er wegen der hohen Arbeitsbelastung nieder, »viele haben das nicht verstanden«.
Und dann kommen im Mai 1990 die Kom munalwahlen. Das Neue Forum gewinnt in Schwerin elf Sitze. »Ich habe einen Wahlkreis auf dem Großen Dreesch gewonnen. Auch das mussten wir doch tun in Schwerin«, sagt er. Freizeit wird zum Fremdwort: »Abends saß man dann mit Fachliteratur noch zu Hause, wir mussten ja alles neu lernen, die Gesetze, Management, Betriebswirtschaft – das hatte man alles nicht studiert, parallel dazu die Menschenführung.«
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