Wie erzählt man Kindern vom Holocaust?

  • Batsheva Dagan
Die Zahl auf ihrem linken Arm, wurde sie mal im Kindergarten gefragt, ob das eine Telefonnummer sei. 45554. Nein, antwortete Batsheva Dagan. Und erzählte von ihrer Zeit im KZ. Kindern vom Holocaust? „Gerade Kindern“, sagt die 90-Jährige. Aus diesem Grund ist sie wieder nach Schwerin gekommen.
13.04.2016
Matthias Hufmann

Ihr Buch ist verfilmt worden. „Chika, die Hündin im Ghetto.“ Nach langer Finanzierungssuche und zweijährigen Dreharbeiten wird der 15-minütige Trickfilm am Mittwoch in Wismar zum ersten Mal gezeigt. Es geht darin um die Freundschaft des Jungen Mikash (5) und der Hündin Chika. Beide müssen sich trennen. Die jüdische Familie lebt im Ghetto, Deportation droht, Vater, Mutter und Sohn verstecken sich im Keller. Der Hund kommt bei einer Bekannten unter. Alle überleben. „Meine Geschichten haben immer ein Happy End“, sagt Batsheva Dagan. „Man darf Kindern nie die Hoffnung nehmen.“

Wie man Kindern vom Holocaust erzählt? Auf diese Frage hat die Holocaust-Überlebende eine Antwort gefunden: vor allem behutsam. Bewusst knüpft sie am Konzept von Märchen an. Batsheva Dagan ist Kinderpsychologin, ihre Bücher gehören zum Bestand in israelischen Kindergärten.

Bücher wie „Chika“. Als sie die Dreharbeiten der Produktionsfirma Trikk17 in Hamburg besuchte, war sie einverstanden mit einer neuen Figur im Film („Es muss doch genug Handlung geben“), aber nicht mit der geplanten Einstiegsszene - „zu aggressiv“. Die Kinder sollten sich nicht bedroht fühlen durch den martialischen Auftritt von Soldaten. Das Drehbuch wurde geändert.

Und der Film? Sie habe schon Ausschnitte gesehen, sagt Batsheva Dagan. Das Projekt sei eine Herzensangelegenheit. Und das Team phantastisch. Regisseurin Sandra Schießl, Drehbuchautorin Carmen Blazejewski, Sabine Matthiesen von der Filmförderung des Landes. Alle wollen am Mittwoch zur Premiere kommen. Ebenso Claudia Richter, die im Landtag arbeitet. 2002 hat sie Batsheva Dagan bei einer Veranstaltung mit Schülern im ehemaligen KZ Ravensbrück kennen gelernt, inzwischen sind die Frauen befreundet.

Die 90-Jährige wohnt bei den Richters, wenn sie in Schwerin ist. Die Wohnung liegt nur eine Minute zu Fuß entfernt vom Slüterufer, wo Batsheva Dagan 1942/43 unter falschem Namen im Haus des Landgerichtsdirektors gearbeitet hatte. Bei Nazis. „Jeden Morgen musste ich Hitlers Bild abstauben“, sagte sie mal der SVZ. Sie hatte sich aus einem Ghetto hierher durchgeschlagen. Fünf Monate lang drohte sie aufzufliegen.

Eines Tages stand die Gestapo tatsächlich vor der Tür.

Als Batsheva Dagan im Mai 1943 in Auschwitz ankam, war sie 17 Jahre alt. Ihre Eltern und eine Schwester waren da schon tot, ermordet in den Gaskammern von Treblinka. Die jüngste Schwester wurde im Ghetto in Random erschossen. Ihre älteren Brüder und eine Schwester hatten nach Russland flüchten können, als die Nazis Polen besetzten, die Heimat der jüdischen Familie.

Im KZ wurde ihr alles genommen: Kleidung, Tasche, Uhr. Ihre Haare wurden geschoren. Fortan war sie Häftling 45554, unübersehbar eintätowiert auf dem linken Arm. Vor ihr lagen 20 lange Monate in einer Baracke mit 800 Gefangenen. „600 Tage, alle vollgeladen mit Angst.“ Sie pflückte Brennnesseln, bis die Hände bluteten, schleppte tonnenweise Kartoffeln und musste täglich Leichen wegtragen.

Als die Rote Armee Anfang 1945 näher rückte, begann die SS, das Vernichtungslager zu räumen. Batsheva Dagan wurde auf den Todesmarsch getrieben. Ins damalige Löslau, über Ravensbrück, bis zum Außenlager nach Malchow. Wer nicht mehr gehen konnte, wurde erschossen. „Der Schnee hatte viele rote Flecken.“

Nach dem Krieg zog Batsheva Dagan nach Israel, heiratete, bekam zwei Söhne. Sie studierte Psychologie und schrieb Jahre später ihr erstes Buch: „Was geschah in der Shoah? Eine Geschichte für Kinder, die es wissen wollen.“

Und diese Kinder gibt es auch in Deutschland. „Sie begreifen viel mehr, als man Ihnen zutraut. Und sie haben in ihrem Leben noch die Wahl - ob sie Gutes oder Böses mitmachen. Das möchte ich ihnen vermitteln.“ Seit 14 Jahren beteiligt sich Batsheva Dagan als Zeitzeugin an Jugendprojekten und Veranstaltungen des Landtages. 2007 wurde sie für ihr Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.

Sie will Kinder zum Fragen bringen, sagt die 90-Jährige. Was sind Ghettos? Warum durften Juden keine Hunde halten? „Chika“ sei ein guter Einstieg. Am Mittwoch werden Kinder aus Hagenow im Kino sein. Und wenn sie nach der Nummer fragen? „Dann werde ich sie aufklären. Und ihnen sagen: Meine Haftnummer ist eigentlich meine Glücksnummer. Sie war mein Todesurteil. Aber ich habe überlebt - und sie erinnert mich täglich daran.“