Der Herr über den Fliegenden Ochsen
Volker Kufahl sitzt an einem Tisch vor dem Café Prag und hat eine große Apfelschorle bestellt. Die Sonne meint es sehr gut mit diesem Frühlingstag und das Schweriner Schloss ist noch da, füllt den Blick straßenabwärts. Sehenswürdigkeiten haben ja die Angewohnheit, im Alltag zu verschwinden, wenn man lange genug an einem Ort lebt. Ein halbes Jahr ist dafür noch nicht lang genug.
Aber lang genug, sich heimisch zu fühlen in der neuen Stadt. Die norddeutsche Mentalität macht den Sprung von Braunschweig nach Schwerin klein. Hier und dort ruhige Menschen, freundlich, aber distanziert. Der Sprung von Konstanz nach Braunschweig damals war größer. Aber der Sprung nach Schwerin schöner, denn hier gibt es, was Kufahl nach den Jahren am Bodensee in Braunschweig vermisste, Wasser in Hülle und Fülle. Und so ist auch der Lieblingsplatz in Schwerin schnell und klar definiert: am Wasser.
Volker Kufahl trinkt einen Schluck Schorle und guckt Menschen. Schwerin ist klein und ein halbes Jahr reicht für eine Reihe bekannter Gesichter. Nach dem FilmKunstFest wird er selbst ein bekanntes Gesicht haben, was bedeutet, dass ihn Menschen kennen, die er nicht kennt. Dann ist er endgültig angekommen.
Nein, es war kein großer Sprung nach Schwerin. Es sind die kleinen Geschichten, die letztendlich die Geschichte schreiben. Gar nicht weit weg, am Eisernen Vorhang, hatte Kufahls Vater gearbeitet. Im Westen, wo man bis an die Grenze durfte. Der eigentliche Grenzzaun allerdings stand gar nicht auf der Grenze, sondern ein Stück weit in der DDR. Davor viel freies Land und ein paar Büsche, in denen sich DDR-Grenzsoldaten versteckten. Das war nicht lustig, wirkte aber irgendwie komisch.
Als Schüler war Kufahl auf Klassenfahrt in Schwerin. Die Stadt hat ihm gefallen, obwohl sie so viel grauer war als heute. Bücher waren billig und einen Marx hat er nach Hause “geschmuggelt”. Er erinnert sich an ein Museum, in dem Geschichte plastisch dargestellt wurde. Beeindruckend fand er es damals. Und er erinnert sich, dass ihnen stolz der DDR-Schultaschenrechner vorgeführt wurde. Danach haben sie selbst ihre Rechner von Texas-Instruments herausgeholt und der Siegeszug des Sozialismus hatte Verspätung.
Als das Angebot für die Leitung des FilmKunstFestes aus Schwerin kam, musste Volker Kufahl nicht lange überlegen. Schwerin war ja nicht fremd und sogar einen Freund hatte er hier schon. Einen Freund aus der Konstanzer Zeit, Arne Hennes, den die Liebe nach Mecklenburg verschlagen hatte. Moment, Arne Hennes? Der Arne Hennes mit dem einzigartigen Flippermuseum? Der Arne Hennes, der mit Katharina...? Genau der!
Schwerin ist wirklich kleiner, als man denkt. Die Wege sind kurz, die Kontakte direkt. Das mag Volker Kufahl an dieser Stadt. Ein Gespräch mit dem zuständigen Minister ist kein Staatsakt. Und die öffentliche Hand kümmert sich, gibt mehr für die Kultur als anderswo. Aber anderswo gibt es auch andere Geldquellen, große Firmen, Industrie, reiche Mäzen. Ein Punkt, der Kufahl so gar nicht gefällt in Schwerin. Es ist schwierig hier, mit dem Geld. Sehr schwierig.
Das Kino ist Volker Kufahls Leidenschaft. 13 Jahre hat er in Braunschweig das Internationale Filmfest verantwortet. In Braunschweig betreibt er immer noch ein Programmkino. Zwei Säle gibt es und kein Popcorn. Dafür guten Wein und ein Bistro mit regionalen Produkten. 70 000 Besucher hatte das Kino im letzten Jahr. Wäre so etwas auch eine Option für Schwerin?
Volker Kufahl lacht. Nein, nein... na ja, mal sehen. Jetzt braucht das FilmKunstFest die ganze Kraft. Er ist aber nicht nach Schwerin gekommen, um beim Festival mit dem eisernen Besen durchzukehren. 24 Jahre Tradition hat das Fest, die kann, die darf man nicht einfach wegwischen.
Was Kufahl gut kann, ist zuhören. Er lässt sich Geschichten erzählen, von damals, von früher, von den Anfängen und den Höhepunkten des Festivals. Von legendären Volleyballschlachten, durchbrennenden Filmen und heillos überfüllten Kinosälen. Und auch von den Querelen. Aber er kommentiert sie nicht, auch nicht die jüngsten und auch nicht auf Nachfrage.
Volker Kufahl ist Mitte 40 und lernt gerade wieder jede Menge dazu. Zum Beispiel, dass es schlecht funktioniert, hier in Schwerin fremdsprachige Filme mit englischen Untertiteln zu zeigen. Wer mit Tom und Peggy im Schulenglisch aufgewachsen ist, der hat da halt so seine Schwierigkeiten.
Die Apfelschorle ist leer, die Zeit drängt. Die Kellnerin bedankt sich fürs Trinkgeld und räumt ab.
Heute beginnt das 24. FilmKunstFest in Schwerin. Ein paar behutsame Veränderungen hat es schon erfahren. Der Termin ist eine Woche verschoben, zwanzig statt zehn Filme im Kurzfilmwettbewerb. Das nächste wird ein Ausnahmefestival. Das 25. FilmKunstFest. Ein Jubiläum. Rückblende, Ausblick, alles, bloß nicht normal.
Das Schloss wird Volker Kufahl dann nicht mehr sehen, wenn er vorbeifährt. Es wird längst im Alltäglichen verschwunden sein. Wie es so ist, bei einem Schweriner.