Gänsehaut auf Türkisch

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    Sein Vater ist der einzige, dem sich Yusuf wirklich öffnet (Bild 1 von 3).
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    Jeden Tag wartet Yusuf darauf, dass sein Papa endlich wieder nach Hause kommt (Bild 2 von 3)
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    Bild 3 von 3
Ein türkischer Film mit Untertitel. Kann das funktionieren, bei einem Filmfestival in Schwerin? Es kann!!!
08.05.2014
Sylvia Kuska

Die Kamera hält nicht nur für ein Mutterherz einen Tick zu lang auf das kleine Gesicht, das mitten im Wald, umgeben von schwerer Nacht, träumend an einer großen Wurzel lehnt. Bitte, lass es jetzt Tag werden. Lass Yusuf erwachen, ein Wunder geschehen, seinen Vater neben ihm stehen. Die Kamera taucht tiefer und tiefer in die Nacht. Abspann.

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Totenstille. Kein Popcorn raschelt. Kein Strohhalm fischt nach dem letzten Tropfen und erwischt doch nur Luft. Gespannte Stille. Gebannte Stille. Anderthalb Stunden lang. Auch dann noch, als der Abspann längst Name um Name abspult. Irgendetwas muss jetzt doch noch kommen. Irgendetwas! So was wie Hoffnung. Wenigstens ein kleines bisschen. Der letzte Name verschwindet von der Leinwand. Dann bleibt sie dunkel. Nicht nur ich wische mir verstohlen eine Träne weg. Und mindestens noch eine.

Filme in türkischer Sprache mit Untertiteln? Beim Filmkunstfest in Schwerin? Das funktioniert nie, unkte vorher so mancher mit Blick auf die diesjährige Länderreihe.

Es ist sicher kein Zufall, dass wir im kleinsten Kino sitzen. Die Festivalmitarbeiterin, die vor der Aufführung erzählt, wie Drehbuchautor und Regisseur Semih Kaplanoğlu seinen kleinen Hauptdarsteller Boras Altaş nicht bei einem Casting fand, sondern mitten im Straßenverkehr, auf einem Fahrrad, also selbst die Festivalmitarbeiterin ist sichtlich überrascht, wie voll Saal drei ist. „Bal – Honig“ steht auf dem Programm. 2010 gewann er auf der Berlinale den Goldenen Bären für den besten Film und den Preis der ökumenischen Jury.

Yusuf ist sechs, gerade zur Schule gekommen. Mit seinen Eltern lebt er im pontischen Gebirge am Schwarzen Meer. Er versteht den Vogelzug, liest Fährten, erkennt Pflanzen. Doch er redet kaum. Und wenn, dann stottert er. Das macht ihn zum Außenseiter. Einen richtigen Zugang zu ihm hat nur sein Vater Yakup, ein Bienenzüchter. Flüsternd überwindet er mit ihm das Stottern. Zumindest zu Hause und so lange seine Mutter nicht dabei ist. Doch dann verschwinden die Bienenvölker aus der Umgebung. Yakup muss seine Bienenkörbe nun in einem schwer zugänglichen Teil des Gebirges aufhängen – und kehrt nicht zurück.

Yusuf wartet. Quält sich durch die verhasste Lesestunde in der Schule. Hofft. Ahnt dennoch das Schlimmste. Er macht sich auf die Suche. Erst mit seiner Mutter, dann allein. Er schweigt. Steckt voller Gefühle. Blickt fragend, suchend, traurig und verträumt aus seinen rehbraunen Augen. Alles zumeist ganz dicht eingefangen von der Kamera, aus einem Blickwinkel, der nicht nur mir für den Augenblick fast das Herz zerreißt. Ich bin fasziniert, wie sich ein siebenjähriges Kind so in seine Rolle hineinfühlen kann. Die türkische Sprache nehme ich längst nicht mehr wahr. Den Untertitel auch nicht. Die Bilder inmitten knirschender Bäume, halbdunkler Räume und der engen Schule sprechen für sich.

Filmkritiker würden all das jetzt deuten, interpretieren, Parallelen ziehen. Mein Zauber des Films, er wäre dahin. Jener Zauber aus Stille und Langsamkeit, aus kargen Worten und nicht Gesagtem, aus eindrucksvollen Nahaufnahmen und unaufdringlich in Szene gesetzten Landschaften und Geräuschen. Keine Action. Kein Geballer. Kein lautes Wort. Keine Filmmusik. Kein Soundtrack im Abspann. Leiser Tiefgang in den Bergen. Einfach nur sehenswert!

Service

Am Sonnabend wird der Film noch mal auf dem Filmkunstfest gezeigt. Um 17.45 Uhr im Capitol 5. Einen (deutschen) Trailer zum Film gibt's hier.

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