„Was gewesen wäre“ - Retrowelle der Gefühle

Hoch war die Erwartung an die Lektüre dieses Romans von Gregor Sander. Der Schweriner, der inzwischen in Berlin lebt, hat für seine literarische Produktion bereits diverse Preise bekommen. Sicher aus gutem Grund und wahrscheinlich zu Recht. Eine Rezension.
13.07.2014
dieschweriner

Vielversprechend ist der Titel, der mit einem klugen Wortspiel darauf hinweist, dass es unmöglich ist, aus der subjektiven Erinnerung heraus zu sagen: So und so war das. Das ist es, was gewesen war. Uns bleibt in der Lebensrückschau nur das Was-gewesen-wäre und dies im doppelten Sinn: Wie es gewesen sein könnte und was gewesen wäre, wenn…

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„Die Farbe der Erinnerung trügt“, schrieb Christa Wolf bereits in den 1970er Jahren in ihrem Buch „Nachdenken über Christa T.“ Etwas weniger poetisch und in den Worten der modernen neurowissenschaftlichen Forschung formuliert: Erinnerung ist vor allem Konstruktion. Auf unserer Reise durch die Vergangenheit sind wir nur Wanderer im Nebel. Wir erkennen schemenhaft Personen, Orte und Ereignisse. Was zum kompletten Bild fehlt, bauen wir mit unserem leicht manipulierbaren Gehirn so lange ein und um, bis die Puzzleteile „passen“. Mn knn zum Beipil diesn Sat lesn, weil das Ghirn di fhlenden Buhstbn hinzfügt. Wir sind bedächtige Archäologen, die verwitterte Fundstücke zusammenlegen und aus ihnen Geschichte(n) zu rekonstruieren versuchen.

Die Lektüre von „Was gewesen wäre“ hinterlässt den Eindruck, hier habe jemand mit dem Modellbaukasten eine Miniaturwelt zusammengeschraubt, sie mit Stasi-Akten, historischen Artikeln und medialen Schnipseln tapeziert, mit allerhand Klischees möbliert und dem Ganzen das Label „DDR“ angepappt.

Diesen DDR-Avatar dann auf Spießerparadies und Gartenzwergrepublik zu reduzieren, um sich in der Folge darüber erheben zu können – das ist heutzutage so tapfer und originell wie es das greise Politbüro einst war. Man spürt die Absicht und ist verstimmt, um es in Goethes Worten etwas freundlicher zu sagen. Das ist, als wolle man jemandem weismachen, dass Legofiguren echte Menschen seien. Das glauben nicht einmal Kinder. 

Worum geht es?

„Was gewesen wäre“ dreht sich im Wesentlichen um den Sommer der ersten, ganz großen, nie vergessenen Liebe und den daraus folgenden Kummer, der sich wie ein ungebetener Gast lebenslang in einem Herzen einnisten kann. Der zeitliche Bogen wird vom letzten Röcheln eines untergehenden Staates bis hinein in die Gegenwart gespannt, die Zeitebenen wechseln zwischen Gestern und Heute.
Es geht um Freud und Leid in der Zeit des Eisernen Vorhangs, es geht um unerfüllte Träume, nicht gelebte Chancen, manipulierte Lebenswege, harmlose und lebensgefährliche Fluchten, um Freundschaft, Verrat und schließlich die Hoffnung auf Vergebung und Erlösung. Nicht zuletzt geht es auch darum, dass der Mantel der Geschichte, dass die eigene Vergangenheit nicht abzustreifen ist, wie sehr man sich auch darum bemüht. Große Themen der menschlichen Existenz also, ausgestellt als Tragikomödie auf der weltgeschichtlichen Bühne.

Oder eben doch nur in einem Kasperletheater, als das der Autor die DDR zu sehen scheint. Es treten auf: Astrid, ein Biedermeiergeschöpf, reinen Herzens und kreuzbrav, ein Schäfchen in Opa Erichs Herde, ein Rotkäppchen, ein naives Gretchen oder der Inbegriff dessen, was sich der Autor unter einem gewöhnlichen, realsozialistischen Menschen ohne Westfernsehen vorzustellen scheint.
Astrid ist unsterblich in ihren Antipoden, den Lebenskünstler und Gelegenheitsmusiker Julius verliebt, er irgendwie auch in sie, vor allem aber in sich selbst. Ein junger Mann, der seine Alles-Spießer-außer-ich-Attitüde wie eine Monstranz vor sich her trägt und schließlich doch nur zurechtgelegte Halbherzigkeiten aufzusagen weiß: Ich wünschte, ich könnte dich lieben. Aber ich kann es nicht.

Das ist natürlich nicht nur an Astrid adressiert, sondern auch an die Puppenstube zwischen Elbe und Oder, Ostsee und Fichtelberg. In Astrids Herz, das sie wider besseres Wissen in Julius` schöne Hände gelegt hat, schlägt er mit dieser spätpubertären Grobheit eine Wunde, die nicht mehr heilen wird.

Es treten weiter auf: Julius’ kunstschaffende Mutter Katharina, die als Wiedergängerin von Bärbel Bohley erscheint, bis hinein in deren Krebserkrankung. Katharina, die Aufrechte, die Jeanne d`Arc des Ostens. Klar. Kaum jemand sonst konnte in der DDR gerade und redlich sein. Nirgendwo menschliche Größe, überall nur kleine Geister. Uff!

Zum Glück aber gibt es noch Jana, die im Gegensatz zu ihrer besten Freundin Astrid als Freigeist durch die Gegend läuft, der sich traut, zu zwitschern wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Doch man hört auch hier schon die Nachtigall durch die Zeilen trapsen, denn nomen est omen: Jana klingt fast wie Janus, der doppelgesichtige Gott der römischen Antike. Und tatsächlich: Im Verlauf der Geschichte wird sich Jana als Vögelchen der Stasi erweisen, das offenbar aus psychischer Not und existenzieller Enge in seinem Nest andere verpfeift und schließlich für zwei Liebende Schicksal spielen will.

Julius soll auf Betreiben von Jana mithilfe seines im Westen lebenden Bruders und seines schwerreichen Vaters aus der DDR geschleust werden. In Westberlin soll er mit Astrid zusammen sein zu können. Ihr wurde trotz ihrer Jugend urplötzlich und willkürlich ein zweiwöchiger Besuch im nichtsozialistischen Ausland genehmigt.

Doch als Julius nach Umwegen durch halb Osteuropa endlich in Westberlin ankommt, ist seine Julia schon weg. Astrid ist, entgegen Janas mephistophelischen Einflüsterungen, in die DDR zurückgefahren und nicht mit ihrem Romeo ins Gartenhäuschen der Nachbarin übergesiedelt wie Gretchen mit ihrem Faust. Astrids Loyalität gilt vielmehr der Mutter, die durch die Rückkehr ihrer Tochter zu schützen ist wie der Freund in Schillers „Bürgschaft“.

Ja, so konnte es gehen in diesen Zeiten: Lebenswege, die sich zwischen klassischen Idealen und shakespeareschen Dramen im märkischen Sand verliefen und deren Spuren schließlich ganz profan im Wind of Change verwehten.

Auftritt Paul: Paul ist ein Radiomoderator, aufgewachsen in der bundesdeutschen Provinz, dessen Westzigaretten jedoch den Duft der weiten Welt verströmen. Einer smarter Typ, der viel und schön reden muss und der aufgrund fehlender Ost-Sozialisation offenbar auch keine schicksalhaften, bedeutungsschweren Lebenswege vorzuweisen hat. Ein paar halbverbotene Strichmännchen an der Dorfkirche statt Riesenknast mit Grünanlagen. Das hat im Verlauf seines Daseins zu einer gewissen Oberflächlichkeit und emotionalen Desorientierung geführt, die jedoch mit einer Psychologin statt mit den jeweils aktuellen Lebenspartnerinnen diskutiert wird.

Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall kommt ein Autor tatsächlich noch mit einer solchen Karikatur vom „Wessi“ um die Ecke?
Etwa 20 Jahre nach Julius spielt der Zufall Paul in Astrids Hände, als er mit Verdacht auf Herzinfarkt in der Notaufnahme landet. Dort arbeitet die inzwischen geschiedene Mutter zweier Kinder, die sich vom Backfisch zur Fachärztin für Kardiologie gewandelt hat und somit in gewisser Weise auch zur Expertin für gebrochene Herzen. Paul findet seine neue, osteuropäische Braut ziemlich sexy. Wirklich verstehen tut er sie allerdings nicht, weshalb er beginnt, in ihrem früheren Leben herum zu forschen wie ein gutmütiger Ethnologe.
Paul und Astrid begeben sich auf einen Kurztrip nach Budapest, wo sie auf – richtig – Julius treffen. Ach, wie klein die Welt noch immer ist. Und ausgerechnet Budapest, diese durch Donau, Armut und Reichtum – Achtung! – geteilte Stadt. Und ausgerechnet Ungarn, dieses ehemalige Transitland für DDR-Flüchtlinge…

Julius, inzwischen wohlhabender Erbe und vierfacher Vater, ist mit seinem Bruder Sascha unterwegs. Die Romanfiguren treffen im geschichtenbeladenen Grandhotel aufeinander, in dem die Zeit stehen geblieben und der bröselnde Charme des Ostblocks konserviert zu sein scheinen.

Es kommt wie es kommen muss: Astrid und Julius werden, unterstützt durch das Ambiente, von einer Retrowelle der Gefühle überrollt. Inzwischen bestimmt offenbar das Design das Bewusstsein, es kommt zum verwackelten Showdown, zur erwartbaren Ernüchterung, zu einer knirschenden und brüchigen Art von Versöhnung. Alte Liebe rostet eben doch.

Was bleibt noch zu sagen?

Nach der Lektüre dieses Buches stellt sich eine gewisse Ratlosigkeit ein. Zunächst wirkt „Was gewesen wäre“ wie eine optische Täuschung: Alles schon einmal gesehen, und doch ist nichts wie es auf den ersten Blick scheint. Die Erinnerung ist eben ein fragiles Konstrukt. Diesen Roman jedoch ausschließlich für die etwas klischeehafte Szenerie einer versunkenen Welt zu halten, von der beim Blick in den Rückspiegel allenfalls die Oberfläche sichtbar wird, wäre zu kurz gegriffen.

Vielmehr wirkt diese optische Täuschung auch wie eine verschlüsselte Zustandsbeschreibung unserer Gegenwart, in der jeder für jeden offen sein soll, in der Realität und Fiktion kaum zu unterscheiden sind, in der alles in der Schwebe und nichts entschieden ist. Allerdings scheint der Verfasser dafür blind und der Text in dieser Hinsicht klüger als der Autor zu sein.

Statt seinen Roman auf die Höhe unserer Zeit zu bringen – wofür Sander zweifellos die erzählerische Kraft hätte –, begnügt er sich damit, sich sprachlich und stilistisch aus dem Werkzeugkasten der Großen der DDR-Literatur und der ostdeutschen Theaterkultur zu bedienen.
Die sind nicht die schlechtesten Lehrer, und man kann das auch biografisch folgerichtig finden. Man kann das als Sinn für Qualität, als kulturelles Bewusstsein oder als charmante Verneigung eines romantischen Melancholikers vor seinen Säulenheiligen interpretieren. Man kann diesen Roman jedoch auch als Fingerübung eines zweifellos begabten Autors betrachten, der es noch nicht wagt, seine eigene Sprache zu sprechen beziehungsweise seine eigene Musik zu spielen.

Gregor Sander hämmert offenbar auf die (analoge) Retro-Klaviatur, um die Zumutungen einer gewaltigen (digitalen) Zeitenwende zu übertönen. Sein Roman wirkt wie eine slapstickhafte Abwehr eines Zeitgeistes, der pausenlos „Bits“ und „Bytes“ vor sich hin piept als sei er auf der Intensivstation, die wir Gegenwart nennen, an sich selbst irre geworden. Charlie Chaplins „Modern Times“ lassen grüßen.
Doch mit dem Klang dieses Hämmerns, der wie ein Echo aus dem industriell geprägten 20. Jahrhundert herüber weht, gelingt es Sander, eine bestimmte Atmosphäre wiederauferstehen zu lassen. Der Autor betreibt in dieser Hinsicht eine Spurensicherung für die Nachwelt und jene, die „dabei“ waren.

Das wiederum ist keine Kleinigkeit in unserer schönen, neuen, parzellierten Welt, in der Erinnerung ins Internet ausgelagert wird, in der WLAN oder kein WLAN die Frage ist, mit der über Sein oder Nichtsein entschieden wird. Wir fristen unser Dasein im Transitraum zwischen analoger und digitaler Existenz, in dem das Leben zu einem Starren auf Bildschirme mutiert ist. Als säßen wir wieder in Platons Höhle und würden aus den vorüberziehenden Schatten an der Wand die Realität ablesen wollen.

Wenn es eine Erkenntnis aus Gregor Sanders Buch gibt, dann vielleicht diese: Ganz gleich, in welcher Höhle wir Menschen gerade hocken; ganz gleich, in welcher Epoche und an welchem Ort dieses Planeten wir uns abkämpfen; ganz gleich, in welchen Datenströmen wir nach Luft schnappen, in welchen Clouds wir wie durch Nebel wandern oder zwischen welchen Zahnrädern des großen Weltgetriebes wir gerade zerrieben werden – das menschliche Herz und die Liebe als Motivation unseres Tuns sind einfach nicht totzukriegen.

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