War das ein Herbst, dieser des Jahres '89!

  • Hans-Dieter Hentschel
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Herbststurm - oder warum das Straßenschild „Alter Garten“ den Zusatz „Zur guten Hoffnung“ verdiente. Dieser Artikel erschien im November 1989 in der Wuppertaler Rundschau.
23.10.2014
Hans-Dieter Hentschel

War das ein Herbst, dieser des Jahres '89!  Eisiger Wind erinnerte an Zustände in 40 Jahren SED-Herrschaft. Nebel verhüllte Privilegien, Misswirtschaft und Amtsmissbrauch. Regen konnte keinen Funktionär reinwaschen. Sonnenstrahlen durchbrachen das Labyrinth von Ignoranz und Besserwisserei. Sie brachen einer neuen Hoffnung Bahn, einer Hoffnung, die auf den Schultern des Volkes  getragen, zuerst in Berlin, Leipzig und Dresden, schließlich auch in Schwerin unüberhörbar artikuliert wurde. Das Volk „ertrampelte“ sich sein Mitspracherecht auf der Straße. Nicht nur von Rednertribünen oder mittels Spruchbändern, in Sprechchören, noch durch angeblich plötzlich freigelassene Medien erzwang man Rechenschaft von Partei und Regierung. In dem angeblich so rückständigen Mecklenburg wurden die andersdenkenden Demonstranten zum Trauma der sich in ihren Sesseln so sicher fühlenden Funktionäre.

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Dabei waren die „Südlander “ schon sauer auf den kühlen Norden. „Mecklenburg erwache“ hieß es auf Aufklebern und Plakaten. Autofahrer aus dem Norden bekamen im Leipziger und Dresdner Raum an den Tankstellen keinen Sprit mehr, wurden als „Rote Socken“ betitelt.

Ja, man muß sagen, es dauert so seine Zeit, eher sich der sture Mecklenburger regt. Doch am 23. Oktober war es endlich soweit. Halb Schwerin ging auf die Straße. Vor allem angestachelt durch die immer noch nach altem Muster funktionierenden Funktionäre.

Diese hatten sich nämlich einen bitterbösen „Spaß“ ausgedacht: „Schweriner, auf zur Kundgebung: Heute 17 Uhr auf dem Alten Garten. Dialog und Tat – gemeinsam für Erneuerungen in unserem Land“, war am Morgen in der SED-Presse zu lesen. Erstaunen und Wut machte sich in der Bevölkerung breit. Das „Neue Forum“ hatte nämlich ursprünglich mittels Flugblättern und Mundpropaganda die erste Schweriner Montagsdemo zu  diesem Zeitpunkt und an diesem Ort angekündigt. Im Wissen um diese geplante Vereinnahmung der Veranstaltung des „Neuen Forum“ durch die Schweriner Parteiführung wandten sich noch am Vormittag viele Arbeiter, Angestellte und Intellektuelle an die Leitungsgremien. Sie gaben ihrem Protest Ausdruck  und Verlangten Richtigstellung. Das blieb jedoch unerhört.

Hinzuzufügen ist noch, dass Betriebe ermächtigt waren, ihre Beschäftigten zum Zweck der Teilnahme an der Kundgebung, Arbeitsbefreiung zu gewähren. Gewerkschafts- und Parteileitungen waren angehalten, ihre Mitglieder aufzufordern, den Alten Garten zur Kundgebung zu betreten und bei Beendigung sofort zu verlassen. Wie sich später herausstellte, wurden SED-Mitglieder aus Großbetrieben des ganzen Bezirkes als „Beifallsspender“ in Bussen nach Schwerin gefahren. In umliegenden öffentlichen Gebäuden des Veranstaltungsplatzes waren Bereitschaftspolizei und Kampfgruppeneinheiten zusammengezogen worden.

Es kam so, wie es kommen musste. Zum einen versammelten sich tausende Schweriner aus Neugier auf dem Alten Garten. Sie hofften auf einen Dialog mit den Mächtigen. Doch ihre Rechnung hatten sie ohne den „Wirt“ gemacht. Die Genossen setzten zum Monolog an, vom Podium aus, über die Köpfe des immer so gehorsamen Volkes hinweg. „Gemeinsam beginnen wir zu lernen, was zu tun und zu lassen ist, damit im demokratischen Miteinander Vertrauen wieder wächst“, skandierte der Parteichef des Bezirkes Heinz Ziegner vom Podium aus. Dabei war er sich nicht im Klaren, dass er in diesem Lernprozess schon jetzt zu den notorischen Sitzenbleibern zählte. Die Chance zum Dialog mit Andersdenkenden war verpasst. Besagter Parteichef schlich sich sogar über die Kellertreppe in seinen Amtssitz zurück, nur um nicht in Diskussionen verwickelt zu werden.

Ein Großteil der Bevölkerung hatte von Vornherein dieser Propagandaveranstaltung den Rücken gekehrt. Nach Friedensgebeten in vier Kirchen der Stadt zogen Zehntausende durch die Straßen. „SED, das tut weh“, „Wir sind das Volk“, „Stasi in die Volkswirtschaft“ lauteten unter anderem die Sprechchöre. Auf Transparenten forderten die Demonstranten Reisefreiheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie die Zulassung oppositioneller Gruppen. Das Volk hatte an diesem Oktobertag Schwerin „erobert“. Die Bürger ließen sich von Stund an nicht mehr hinters Licht führen.

Montag für Montag strömten seitdem tausende Bürger zum Alten Garten. Sie demontrierten gegen das Machtmonopol der SED, gegen die Staatssicherheit, für eine Reform des Gesundheits- und Bildungssystems, für einen bewußterem Umgang mit der Umwelt.

In den Schwerinern keimte Hoffnung auf einen Neubeginn. Damit verband sich der Wunsch nach einem demokratischen Staat, ohne Bevormundung von Ost oder West. Diese Hoffnung schließt Partnerschaft zwischen Menschen unterschiedlicher Geisteshaltung ein.

(Das Straßenschild „Zur guten Hoffnung“ wurde im November 1989 anlässlich der Unterzeichnung des Jahresvertrages für die Städtepartnerschaft zwischen Schwerin und Wuppertal von der Wuppertaler Bürgermeisterin Ursula Krauss an die SDP  Schwerin übergeben.)

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