Das Versagen beim Jugendamt

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Das Jugendamt habe die Gefahr falsch eingeschätzt, Infos unzureichend dokumentiert und „monatelang“ für sich behalten anstatt zu handeln. Der Untersuchungsbericht über das Verhalten des Jugendamtes im Missbrauchsskandal bei „Power for kids“ wirft der Behörde grobe Fehler vor.
09.03.2016
Sylvia Kuska

Er „hat vor vielen Kindern und Jugendlichen bei einem Kind von hinten die Füße hochgenommen und mit seinem Becken Sexbewegungen in Richtung des Pos des Kindes gemacht“. Er habe gesagt, „die Heizung ist warm, aber du bist heißer.“ Er „hat mir die Brust gestreichelt... und meine Brustwarzen angefasst“. Was würden Sie denken, wenn Ihnen ein Kind so etwas schildert?

Das Schweriner Jugendamt dachte sich offenbar nichts Schlimmes. Als es im Januar 2015 diese Hinweise von einem Schulsozialarbeiter erhielt, machte es sich hier und da Notizen. Es erfährt, dass sich die Vorwürfe gegen einen Tanzlehrer vom Jugendverein „Power for kids“ richten und die beiden Jungen, die sich dem Schulsozialarbeiter anvertraut hatten, anonym bleiben wollen. Ansonsten vertraute es im Wesentlichen darauf, dass sich der Schulsozialarbeiter um die beiden Jugendlichen kümmert. Eine Information des Jugendamtes an die Polizei? Fehlanzeige. Eine Information an den Verein über den Verdacht? Fehlananzeige. Ein Dranbleiben an den Vorwürfen? Nein.

Die Möglichkeit, dass noch mehr Kinder betroffen sein könnten, habe das Jugendamt offenbar ebenfalls „nicht in Betracht gezogen“, heißt es im Bericht. Diese „Gefährdungseinschätzung“ sei „grob fehlerhaft“ gewesen.

Vier Wochen, nachdem das Jugendamt Kenntnis von den Vorwürfen erlangte, legte es den Fall zu den Akten. Knapp acht Monate später, Anfang August, wird Peter B. verhaftet. Dazwischen hatte er wieder und wieder Kinder missbraucht, einen Jungen vergewaltigt. Vor vier Wochen wurde Peter B. für 53 Missbrauchsfälle zu 6,5 Jahren Haft verurteilt.

Wie kann es sein, dass ein erfahrener Abteilungsleiter im Jugendamt Hinweise, zu denen vermutlich bei jedem Laien Alarmglocken schrillen würden, nicht ernst (genug) nimmt? Eine Antwort darauf liefert der Bericht nicht. Fakt ist jedoch, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht nur seine Abteilung leiten, sondern vertretungsbedingt zusätzliche Aufgaben aus anderen Bereichen wahrnehmen musste.

Personelle Konsequenzen?

Einmal mehr brisant wird es im Bericht an der Stelle, an der es um das Anerkennungsverfahren des Vereins geht. „Power for kids“ bemühte sich seit Jahren darum, als freier Träger der Jugendhilfe anerkannt zu werden. Das scheiterte jedoch mehrfach, unter anderem am pädagogischen Konzept. Rund drei Monate, nachdem das Jugendamt von den Missbrauchsvorwürfen erfahren hatte, bereitete selbiger Abteilungsleiter eine Beschlussvorlage vor, die den Stadtvertretern empfahl, dem Verein die gewünschte Anerkennung auszusprechen. Die Missbrauchsvorwürfe seien die ganze Zeit über unerwähnt geblieben, heißt es im Bericht. Zu einem Beschluss ist es durch die Verhaftung von Peter B. nicht mehr gekommen.

Insgesamt 61 Seiten dick ist der verwaltungsinterne Untersuchungsbericht. Der Fokus der Untersuchung lag im Wesentlichen auf vier Mitarbeitern: Amtsleiterin, Abteilungsleiter, Sozialpädagogin und dem ehemaligen Sozialdezernenten. Im Ergebnis werden die meisten Fehler der Abteilungsleitung vorgeworfen. Die Rolle des damaligen Dezernenten Dieter Niesen „konnte im Rahmen der Ermittlungen nicht geklärt werden, da dieser zu den Anhörungen nicht erschienen ist“.

Und nun? Nun werden sich die politischen Gremien mit dem Bericht befassen. Oberbürgermeisterin Angelika Gramkow kündigte zudem an, personelle Konsequenzen zu prüfen.

Auszüge aus dem Bericht:

„Problematisch ist hier, dass die Amtsleiterin und der Abteilungsleiter ausführten, die Dokumentation aufgrund der zugesicherten Vertraulichkeit nicht durchgeführt zu haben. (…) In den Fällen vertraulich erlangter Meldungen kann diese „anonym“ aufgenommen (…) und von einer Nennung der Namen (…) abgesehen werden. (...) Im Ergebnis ist die nicht vorgenommene Dokumentation mit den vorhandenen Regelungen nicht vereinbar.“

"Darüber hinaus hätte das Jugendamt zur Abschätzung des Gefährdungsrisikos im vorliegenden konkreten Einzelfall mit anonymisierten Daten externe Fachleute (...) hinzuziehen können bzw. müssen."

„Dass der Abteilungsleiter die Informationen zum Gespräch bis zur Festnahme des Herrn B. (im Detail) an keinen Mitarbeiter des Jugendamtes weitergeleitet hat und die Information monatelang für sich behalten hat, ist nicht nicht nachvollziehbar und auch nicht mit den DA [= Dienstanweisungen, Anmerk. d. Red.] vereinbar.“

„Da es sich hier um einen Verdacht sexueller Handlungen in einer öffentlichen Einrichtung handelte, in die quasi täglich Kinder und Jugendliche gehen, hätte hier bei Unsicherheit der Jugendamts-Mitarbeiter bezüglich einer Strafanzeigenerstattung rechtliche Beratung durch die Polizei zu den Folgemöglichkeiten in Anspruch genommen werden können. All dies wurde jedoch nicht in Erwägung gezogen.“

Fazit: „Bezüglich der Abwägung, dass zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens der geschilderten Vorwürfe weitere Kinder und Jugendliche hätten betroffen sein können, haben die Mitarbeiter des Jugendamtes (grob) regelwidrig gehandelt, da hier keine Risikoeinschätzung stattgefunden hat. Auch in der Folge sind weitere Verfahrensschritte weder im Krisenteam thematisiert noch Handlungen durch die Mitarbeiter hinterfragt worden. Somit haben das Fehlen der Risikoeinschätzung und der fehlende Austausch innerhalb des Jugendamtes zu weiteren Folgefehlern geführt. Im Nachgang wurden weder Maßnahmen durch das Jugendamt eingeleitet (z.B. Hinzuziehung der Polizei) noch kam es zur Aufklärung des Sachverhaltes (z.B. Kontaktaufnahme mit dem Verein), um eine mögliche Kindeswohlgefährdung abzuwenden. Der Sachverhalt wurde (mit insgesamt 12 Seiten) nur unzureichend ohne die entsprechenden Anlagen/Bögen dokumentiert.“

Der ganze Untersuchungsbericht ist hier nachlesbar: www.schwerin.de