Jugendamt zahlt Tagesmüttern zu wenig Geld

  • Symbolbild/pixabay.de
Zu dem Urteil kommt das Schweriner Verwaltungsgericht. Ob Tagesmütter nun tatsächlich schon bald mehr Geld erhalten, ist allerdings fraglich.
12.10.2017
Sylvia Kuska

Mittwoch, 9.30 Uhr. Verwaltungsgericht, Wismarsche Straße. Saal III. Vorsitzender Richter Sven Nickels blickt in ein volles Halbrund. Zu seiner Linken – die Kläger: zwei Tagesmütter aus Schwerin, ein Tagesvater aus Rostock. Umrahmt von zwei Anwälten. Rechts – die Beklagten. Auch die Jugendämter Rostock und Schwerin sind im Doppelpack vertreten. Auf allen Tischen stapeln sich Akten, Ordner, Sozialgesetze. Argumente.

Beide Seiten streiten um Geld. Die Forderung ist einfach. Die Materie komplex.

Beim Preis hört die Selbstständigkeit auf

Die beiden Klägerinnen aus Schwerin sind zwei von rund 70 Tagesmüttern in der Landeshauptstadt. Korrekt heißen sie Tagespflegepersonen, zusammen betreuen sie mehr als 250 Kinder. Maximal dürfen es fünf pro Betreuer sein. Tagesmütter sind nicht angestellt. Sie arbeiten freiberuflich. Sind selbst dafür verantwortlich, passende Räume für ihre Arbeit zu finden, Spielzeug zu kaufen, die Kinder zu verpflegen und betreuen. Wie viel Geld sie für ihre Arbeit bekommen, das kalkulieren sie jedoch nicht selbst: Das bestimmt das Jugendamt als Träger der örtlichen Jugendhilfe.

Zwei wackelige Säulen

Dessen Zahlungen stehen im Wesentlichen auf zwei Säulen. Mit der einen erstattet es Sachkosten: Miete, Strom, Wasser, Heizung, Reinigung, Spielmaterial, Fachliteratur, Haftpflichtversicherung und so weiter. Insgesamt 92,21 Euro pro Kind und Monat. Wie hoch die Ausgaben tatsächlich sind, spielt keine Rolle. Gezahlt wird pauschal. Wer nicht extra Räume anmietet, bekommt nur 10,22 Euro. Für Verwaltungs- und Materialkosten. Diese pauschalen Beträge entsprächen bei weitem nicht der Realität, sagen die Kläger. Ihr stärkstes Argument liegt im Steuerrecht. Das erlaubt ihnen nämlich ausdrücklich, jeden Monat pro Vollzeitkind pauschal 300 Euro als Betriebsausgaben von den Einnahmen abzuziehen. Die Landeshauptstadt orientiert sich hingegen am Schweriner Mietspiegel und durchschnittlichen Kosten von Kita-Trägern. Zwei Auffassungen, zwischen denen gut 200 Euro pro Kind und Monat und viel Streitpotential liegen.

Eingestuft wie Kinderpfleger

Die zweite Säule ist das Geld, das Tagesmütter für die Betreuung der Kinder bekommen. Behördisch der Betrag zur Anerkennung der Förderleistung. Die Stadt lehnt ihn an die tariflichen Entgelte für Kinderpfleger an und kommt – unabhängig von Berufserfahrungen oder vom Grad der Qualifizierung – pro Kind auf Monatsbeträge zwischen 459,50 Euro (Ganztagsplatz) und 183,80 Euro (Halbtagsplatz). Die Kläger fordern mehr. Sie fühlen sich wie zweite Wahl – und das, obwohl die Stadt ohne sie ein großes Betreuungsproblem hätte, monieren sie. Außerdem hätten sie bei der Förderung der Kinder die gleichen Bedingungen zu erfüllen wie Kita-Erzieher. Die hätten aber eine mehrjährige Ausbildung hinter sich, während für Tagesmütter eine 160-Stunden-Qualifizierung ausreiche, kontert die Stadt. 

Zwei Säulen, drei Probleme. Denn Sachkosten plus Förderkosten sind nicht gleich der Betrag, den das Jugendamt den Tagesmüttern überweist. Den Anteil, den die Eltern für den Betreuungsplatz bezahlen müssen, zieht es davon ab. Er liegt je nach Betreuungszeit zwischen 217 und 114 Euro pro Kind. Ihn müssen die Tagesmütter direkt mit den Eltern abrechnen. Das Säumnis-Risiko liegt damit allein bei ihnen. Auch das wollen die Kläger geändert wissen.

Gericht: Bisherige Festlegung der Beträge ist fehlerhaft

Die Ansichten gehen weit auseinander – und führen alle nun in Saal III zusammen. Mehr als zwei Stunden fliegen die Argumente hin und her. Dann soll Sven Nickel es richten. Noch am Nachmittag entscheiden er und seine vier Beisitzer: Die bisherige Praxis, mit der Schwerin – und auch Rostock – die Höhe beider Säulen ermitteln, ist fehlerhaft. „Die bislang für die Festlegung herangezogenen Gründe stellen keine ausreichende Grundlage für die Ermittlung der Erstattungssätze dar“, teilt das Gericht mit. Wie genau es seine Maßstäbe überarbeitet, das ist allerdings dem Jugendamt überlassen. Konkrete Summen dürfe das Gericht nicht vorgeben, betont Nickels. Bei den Elternbeiträgen bleibt dagegen alles beim alten: sie sind Sache der Tagesmütter.

Neuregelungen würden für alle gelten

Und was bedeuten die Urteile jetzt? Die Kläger können, wenn sie rechtskräftig werden, mit einer Nachzahlung rechnen, sagt Mirjam Taprogge-Essaida, die zwei der drei Kläger vertrat. Hoffen können aber auch alle anderen Tagespflegepersonen. Sie würden zwar nicht rückwirkend profitieren, aber ab dem Zeitpunkt, an dem eine neue allgemeine Festsetzung gelte, so die Rechtsanwältin.

Urteil ist noch nicht rechtskräftig

Ob das schon bald der Fall sein wird, ist allerdings fraglich. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Die Stadtverwaltung werde jetzt erst einmal die schriftliche Urteilsbegründung abwarten und dann entscheiden, wie sie mit den Urteilen umgehe, sagte eine Sprecherin. So lange keine rechtskräftige Entscheidung gefallen sei, müsse die Stadt nicht zwingend handeln, erklärt Anwältin Taprogge-Essaida. Und auch danach gebe es keinen festgelegten Zeitraum, bis wann die Maßstäbe zu überarbeiten seien. Auch stellt der Richterspruch nicht sicher, dass eine neue Berechnungsgrundlage am Ende tatsächlich zu einer angemessenen Erhöhung der Beträge führen wird. „Es besteht das Risiko, dass nach Festlegung neuer Sätze ein erneutes Verfahren geführt werden muss."

Und was sollten jetzt Tagesmütter tun, die nicht geklagt haben? „Alle Tagespflegepersonen sollten ab sofort jeweils nach Vorlage der monatlichen Abrechnungen schriftlich höhere Leistungen mit einem einfachen Dreizeiler und unter Berufung auf die Urteile beantragen. Sollten dann Ablehnungsbescheide ergehen, sollte man sich juristische Hilfe holen“, empfiehlt Mirjam Taprogge-Essaida.

(Aktenzeichen: Az. 6 A 833/16 SN, 6 A 835/16 SN und 6 A 2822/16 SN)