So unerwartet still dein Herz
Der Regenbogen. Jenny Apelt hat ihn im Garten fotografiert, hat die Bilder vergrößern und drucken lassen und wie ein Puzzle zusammengesetzt. Stück für Stück. Ein großer, farbenfroher Bogen. Er hängt im Kinderzimmer, dort, wo einmal Antons Bettchen stand. „Es gab viele Regenbogen in dem Jahr, als unser Sohn starb“, erinnert sich die 32-Jährige. Einen hat sie festgehalten. Am 15. Mai 2011, zwei Tage nach dem Tod ihres Kindes.
Anton wurde nicht mal zwei Jahre alt. Er musste operiert werden, mehrfach, zweimal wurde ihm Knochenmark transplantiert. Seine Krankheit kommt so selten vor, dass die Ärzte bis zur Diagnose lange rätselten. SCID. Schwerer kombinierter Immundefekt. Risiko: 1:50.000 bis 1:100.000. Noch heute beschäftigen sich Forscher mit seinem Fall, um anderen Patienten helfen zu können.
„Anton musste oft leiden“, sagt Jenny Apelt. „Aber er war ein Kämpfer.“ Die Mutter hat Tagebuch geführt und unzählige Mails aus Krankenhäusern geschrieben, an die Familie und an Freunde, die den Jungen nicht besuchen durften, weil die Infektionsgefahr zu groß war. Ihre Aufzeichnungen sind jetzt als Buch erschienen: „Wir hätten Dich sonst sehr vermisst.“* Ein Buch über Anton. Über sein Leben. Sein Sterben. 194 Seiten aber auch zur Frage: Wie viel kann eine Familie ertragen?
Auszug vom Juli 2009: „Anton ist drei Wochen alt, als er anfängt, schlecht zu schlafen. Er wimmert und weint, nichts kann ihn beruhigen. Sobald er ein paar Schlucke zu sich genommen hat, hört er schreiend abrupt auf. Was ist da bloß los?“
Anton war das Wunschkind von Jenny und Michael Apelt. Er kam am 5. Juli 2009 auf die Welt, 50 Zentimeter groß, 3510 Gramm schwer – „und zuckersüß“, so die Mutter. Ein paar Tage nach der Geburt durften sie die Klinik verlassen und heimfahren, in ihr Haus in der Nähe von Schwerin. „Wir konnten unser Glück kaum fassen.“ Anton lachte viel, war zufrieden. Doch das änderte sich bald. Diese Qualen nach dem Trinken! Eltern und Großeltern waren ratlos. Hebamme und Mediziner tippten auf Koliken.
27. Oktober: „Mein Baby schreit mittlerweile 23 Stunden am Tag. Das sind doch keine Dreimonatskoliken! Da stehe ich nun als hilflose und unglaublich verängstigte Mutter, nervös, mit dicken blauen Ringen unter den Augen und werde wahrscheinlich noch belächelt.“
Eine Woche später wurde der Junge ins Krankenhaus eingewiesen. Er sollte durchgecheckt werden. Ergebnis: Rotaviren. Aber das war nicht der schlimmste Befund.
11. November: „Eine Blutuntersuchung hat ergeben, dass Anton nach der ersten Sechsfach-Schutzimpfung keine Antikörper gebildet hatte. Da auch seine Leukozyten weiter abgefallen sind, vermuten die Ärzte einen Immundefekt. Wir sind geschockt.“
Nach vier Monaten voller Ungewissheit stand fest: Es war SCID, der schwerst mögliche Immundefekt. Anton könnte lebensbedrohliche Infektionen erleiden, die nur schwer in den Griff zu bekommen wären, erklärten die Ärzte. Er benötigte Hilfe. Dringend.
8. Dezember: „Der ersehnte Tag ist da: Ich spende Stammzellen für meinen Sohn. Die Schwester startet die Maschine und wir beobachten, wie mein Blut durch zahlreiche Schläuche läuft.“
Als Anton die Stammzellen gespritzt wurden, hielten die Eltern alles mit der Kamera fest. Zur Erinnerung, sagt die Mutter. „In diesen Moment hatten wir doch so viele Erwartungen gesetzt.“
24. Dezember: „Wir verbringen unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest zusammen mit unseren Familien in der Klinik. Nichts ist so wie zu Hause. Aufgrund der sterilen Umgebung gibt es keinen Weihnachtsbaum, wir dürfen nicht einmal alle gleichzeitig bei Anton im Zimmer sein.“
Aus der Krankenakte des Jungen: In seinem kurzen Leben lag er im künstlichen Koma, hatte eine Lungenentzündung, Knochenbrüche wegen Osteoporose, H1N1 (Schweinegrippe), ihm musste ein Stück von der Lunge entfernt werden - und sein Körper wehrte sich gegen die Stammzellen der Mutter. „Er hat viele Operationen über sich ergehen lassen müssen“, sagt Jenny Apelt. Es gab immer wieder Rückschläge. Von einem Tag auf den anderen.
13. Januar 2010: „Ich erschrecke sehr: Anton ist völlig abgemagert, seine Augen sind eingefallen, sein Gesicht ist ausgemergelt, die Haut in der Leiste und der Armbeuge hängt in Falten, ähnlich wie bei älteren Menschen.“
26. April: „Wir müssen nur fünf Tage nach unserer Entlassung erneut in die Klinik. Wegen der Rotaviren sind Antons Leberwerte schlechter geworden. Nach einem kleinen Fingerpieks blutet er eine Dreiviertelstunde lang. Irgendetwas scheint mit seiner Gerinnung nicht in Ordnung zu sein.“
8. Oktober: „Anton erhält die Stammzellen eines Fremdspenders. Kurz zuvor hat uns eine weitere Hiobsbotschaft erreicht: Die Gastroenterologen sind sich einig, dass sich Antons Leber nicht wie bisher geglaubt erholen wird und ebenfalls transplantiert werden muss.“
„Trotz aller Katastrophen: Unser Sohn wollte leben“, sagt Jenny Apelt. „Er war ein Kind der Tat, blätterte wie wild in Büchern und freute sich, wenn er darin Tiere entdeckte.“ Er hielt lange durch bei der Hochzeitsfeier seiner Eltern. Freute sich über das Geburtstagsständchen von Schwestern und Ärzten. Tobte mit dem Vater, tanzte mit der Mutter, verbrachte viel Zeit mit den Großeltern. Er durfte immer mal wieder im eigenen Bett schlafen statt nur in der Klinik, lernte aufs Töpfchen zu gehen, plapperte los. „Mir ist unverständlich“, so Jenny Apelt, „wie ein Kind, das so viel Leid erfahren hatte, trotzdem so aufgeschlossen sein konnte.“
Der kleine Junge brauchte lange, um nach einer weiteren OP richtig aufzuwachen. Irgendwann aber verzog sich der Nebel um ihn herum, er machte Fortschritte – und lächelte wieder. „Anton war ein fröhliches Kind“, sagt die Mutter. „Vor allem in den Wochen vor seinem Tod.“
2. April 2011: „Wir feiern zu Hause den Geburtstag meines Mannes. Wir beginnen den Tag mit einem ausgedehnten Frühstück am Esstisch. Anton sitzt zufrieden in seinem Schaukelpferd und sieht uns vergnügt zu.“
24. April: „Es ist Ostern und wir machen einen Familienausflug an die Ostsee. Anton staunt Bauklötze über die Wellen, die zischend mit weißen Schaumkronen ans Ufer schlagen. Wir haben das Gefühl, langsam in ein normales Leben zu gleiten.“
Doch dann starb Anton. Am 13. Mai 2011. In der Nacht hatte er sich ständig übergeben müssen. Die Ärzte glaubten an einen Magen-Darm-Infekt. Ihr Rat aber half nicht. Wieder ging es ins Krankenhaus. Und nochmal nach Hause. Die Apelts telefonierten mehrfach mit dem Arzt, der mit ihrem Fall vertraut war. Die Spezialklinik wurde alarmiert. Wann müssten sie spätestens losfahren? „Wenn Anton kurzatmig wird“, sagte der Professor. Jenny Apelt sollte auf ihr Gefühl als Mutter hören. Um 21.15 Uhr hielten es die Eltern nicht mehr aus. „Als wir Anton in den Autositz setzten und anschnallten, verschlechterte sich sein Zustand dramatisch. Er bekam offensichtlich keine Luft.“ Sie rasten zur Klinik Richtung Stadt.
13. Mai gegen 21.45 Uhr: „Anton hat Flüssigkeit in der Lunge und wahrscheinlich beim Erbrechen Mageninhalt hineinbekommen. Der Arzt meint, dass selbst wenn es gelingen würde, Anton zu intubieren, nicht gesagt ist, dass er es schafft. Falls er wirklich aspiriert hat, würde sich in der Lunge eine schwere Entzündung ausbreiten.“
„Ist Anton stark genug, das alles noch einmal zu überstehen“, fragte sich die Mutter. „Möchte er das denn überhaupt? Oder möchte er seine Ruhe haben?“ Seine Herzfrequenz sprang rauf und runter. Ebenso seine Atemfrequenz. Ein Herzstillstand drohte.
13. Mai gegen 22 Uhr: „Eine uns vertraute Schwester kommt ins Zimmer und schaut uns traurig und mitfühlend an. Ich frage sie, ob es denn nicht auch Kinder gibt, die so etwas schaffen. Sie kann gar nichts sagen, ihr Blick wird noch trauriger und sie geht schweigend wieder. Ab diesem Moment ist mir klar, dass Anton sterben wird.“
Der Kreislauf des Jungen ließ sich nicht stabilisieren, er stöhnte und schnappte nach Luft. Deshalb die Intubation. Er sollte danach mit dem Hubschrauber in die Spezialklinik geflogen werden. Doch Anton schaffte es nicht mehr.
13. Mai, 23.30 Uhr: „Die Anästhesistin erklärt uns, dass Anton nach dem Intubieren einen Herzstillstand hatte. Sie erklärt uns auch, dass die Kurven auf dem Monitor durch die Stimulation des Herzens kommen. Sie hören kurz auf, um uns das zu verdeutlichen. Wir sehen eine gerade Linie, keine Kurven. Da wird mir schlagartig klar: Jetzt ist es vorbei und das ist so unendlich traurig, aber es ist vorbei.“
So unerwartet still dein Herz, heißt es im Tagebuch.
Ein Vierteljahr nach dem Tod ihres Sohnes unterrichtete Jenny Apelt wieder als Lehrerin an einer Schule in Schwerin. Sie hatte es tagsüber nicht mehr allein ausgehalten in ihrem Haus. Sie suchte vergebens nach einem Trauertherapeuten und machte schließlich mit ihrem Mann eine Reha für verwaiste Eltern. Sie sagt: „Der Schmerz ist nicht weniger, aber anders geworden.“
Ihr Sohn ist vor vier Jahren gestorben. Auf Antons Beerdigung wurde „Somewhere over the Rainbow“ von Israel Kamakawiwo'ole gespielt. Sie hatten das Lied oft gemeinsam im Radio gehört. Es lief auch, als sie später unterwegs waren, um einen Grabstein auszusuchen, „in einem Moment festen Denkens an Anton“, so Jenny Apelt.
„Somewhere over the Rainbow“ im Jahr der vielen Regenbogen. Und einer davon ist sogar noch da. Er hängt als Collage im Kinderzimmer, in Friederikes Zimmer. Das Mädchen ist zweieinhalb - und kerngesund. Sie wird bald ein kleines Geschwisterchen bekommen. Der Regenbogen erinnert sie daran, dass sie auch einen großen Bruder hat. Anton.
Das Buch
Jenny Apelt: Wir hätten Dich sonst sehr vermisst. Adebor Verlag, Banzkow, 2015, ISBN 978-3-944269-16-0