Rikscha statt Tretmühle

  • Kuska
Kennen Sie Claas Baumann? Viele Schweriner werden nicken. Ihnen sagt der Name nichts? Vielleicht aber das, was Claas Baumann macht: Er ist der mit den Fahrradrikschas in der Stadt. Ach, der ist das? Ja, der!
21.07.2014
Sylvia Kuska

Stillstand findet er langweilig. Auch deswegen strampelt Claas Baumann sich ab. Seinen Rikschas in der Innenstadt nicht zu begegnen, ist kaum möglich. Streng genommen müsste man schreiben seinen „Fahrradrikschas“. Ohne das „Fahrrad“ vorweg müsste der 50-Jährige die Gefährte mit Muskelkraft übers Kopfsteinpflaster ziehen. So, wie es bis heute noch in Kalkutta Tradition ist.

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Wenn Claas Baumann morgens die Garagentür aufmacht, zusammen mit seinen Fahrern eine Rikscha nach der anderen in den Tag entlässt, lebt er seinen ganz persönlichen Traum von Arbeit und Freiheit. Zwei, drei Generationen zurück hätte manch einer vielleicht gefragt: Hat er denn nichts Anständiges gelernt? Die Antwort wäre gewesen: Doch, hat er. Elektroingenieur, Musikstudium, Ausbildung zum Ergotherapeuten. Neun Jahre war er Solotubist am Theater Vorpommern in Stralsund. Bis er unruhig wurde. Weil Stellen abgebaut werden sollten. Aber auch, weil Tubisten viel herumsitzen. Und Stillstand seine Sache nun mal nicht ist. Als Ergotherapeut konnte er sich über mangelnde Bewegung zwar nicht beklagen. Ebenso wenig über einen unsicheren Arbeitsplatz. Wäre da nach acht Jahren nicht trotzdem das Gefühl gewesen, das wars noch nicht. Auf Dauer die gleichen Tretmühlen? Zu monoton für sein, wie er selbst sagt, großes Ego. Jetzt tritt er lieber in die Pedalen.

Claas Baumann schwingt sich auf den Sattel. Leise surrend zuckelt die Rikscha über das Kopfsteinpflaster der engen Schelfstadtstraßen, verlässt dabei sonst gewohnte Pfade. Statt in Richtung Innenstadt lenkt Claas Baumann sie zum Ziegelinnensee, seinem Kiez aus Kindheitstagen. Hier hat der Ur-Schweriner so manch freiwillige und unfreiwillige Mutprobe bestanden. In alten Rohren und längst verschlossenen Bunkern. Oder heimlich mit einem Boot, das noch gar nicht wassertauglich war.

In der Nacht hat es geregnet. Die Luft an diesem Sommermorgen ist klar und rein. Für Claas Baumann riecht sie hier aber unweigerlich nach faulen Eiern. So wie damals, als die Kokerei noch stand und der Geruch regelmäßig die Nachbarschaft einhüllte. Viel ist hier nicht geblieben von früher. Die Gaskessel der Kokerei, die als Kind wie beeindruckende Monster auf ihn wirkten, sind südwestlich aus der Silhouette radiert. Der Hafen ist Geschichte. Im Speicher, in dem einst Getreide lagerte, übernachten heute Hotelgäste. Die alte Brauerei ist dicht. Früher hat sein Bruder da mal in den Ferien gearbeitet. „Praktischerweise, als ich bei der Armee war.“ Dort war nämlich Alkohol verboten. Also haben die Geschwister eine spezielle „Apfelschorle“ gemischt. Original-Deckel auf die Saftflasche  drauf. „Keiner hat's gemerkt.“ Und über die Stelle, an der im VEB Keramik einst Gasherde zusammengebaut wurden, ist inzwischen Gras gewachsen. Dafür recken sich am Ufer neue Häuser empor. Modern. Quadratisch. Mit viel Glas. Claas Baumann würden alte Apfel- oder Birnenbäume vorm Balkon fehlen. Mindestens.

Die Rikscha ist inzwischen bis zum Südufer des Ziegelinnensees gezuckelt. Ein Tempo, an das sich so mancher Fahrgast durchaus erst ein paar Minuten gewöhnen muss. Auch wenn Claas Baumann die meiste Zeit des Tages so entschleunigt unterwegs ist, seien die vergangenen fünf Jahre wie im Flug vergangen. 2009 nutzte er die Bundesgartenschau als Motor für sein gerade gegründetes Unternehmen schwerintaxi.de. Mühselig sei der Job aber bisweilen auch heute noch.

Am Nordufer des Pfaffenteichs liegt uns sein Rikscha-Kiez als Panorama zu Füßen: die Altstadt. Die Tour durch enge Gassen, vorbei an duckenden Fachwerkhäusern und Demmlerschen Regierungsgebäuden gehört zu den beliebtesten – nicht nur bei Touristen.

Welche Erlebnisse ihm rückblickend besonders in Erinnerung geblieben sind? Jene zum Beispiel, in denen er ältere Schweriner, die nicht mehr gut zu Fuß sind und selten herauskommen, an Plätze ihrer Kindheit fährt. Häufig sei das ein Geschenk der Familie – und für seine Fahrgäste ein sehr intensiver Moment.

Manche sagen, er sei ein (Über-)Lebenskünstler. Andere beneiden ihn, dass er seinen beruflichen Traum lebt. Und Claas Baumann selbst? Er ist im Moment mit sich und der Bewegung in seinem Leben im Reinen. Und dafür strampelt er weiter.

Service
Nähere Informationen zu den Touren und den Mitfahrmöglichkeiten der Fahrradrikschas gibt es im Internet unter www.schwerintaxi.de.