Eine Kolumne von Roland Regge-Schulz

Lankow. Ein Wintermärchen

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Früher war mehr Lametta. Sagt man. Früher war mehr Schnee. Sage ich. Mit dem Lametta mag es ja stimmen. Mit dem Schnee glaube ich nicht. Ich glaube: Das Gehirn erzählt uns Wintermärchen.

Das Wintermärchen geht so:
Es war einmal eine Zeit, da tat mir beim Aufstehen nichts weh und die Winterferien dauerten lange drei Wochen. Und obwohl wir Zeit genug gehabt hätten, ist keiner in die Alpen zum Skilaufen gefahren. Wozu auch. Draußen lag Schnee. Nicht meterhoch aber genug für Schneeballschlachten, genug um sich mit dem Schlitten die Todesbahn hinunterzustürzen, genug um Ski zu fahren. Und wenn wir keine Lust auf Ski und Rodel hatten, sind wir auf dem Lankower See Schlittschuh gelaufen. Die Schilder, die vor dem Betreten der Eisfläche warnten, haben wir ignoriert. Die standen ja immer da. Selbst im Sommer, wenn wir baden gingen.

Wie wir wissen, nehmen Märchen es mit der Wahrheit nicht so genau. Ich erinnere nur an Hänsel und Gretel die auf einer Ente einen See überquerten. Märchen sind halt nur Erinnerungen. Und je mehr Zeit vergeht, desto mehr geht im Kopf durcheinander.
Nehmen wir doch nur mal mein Wintermärchen. Voller Fehler. Wir wären schon gerne in die Alpen gefahren. Wir konnten nur nicht, weil eine Mauer zwischen Flachland und Gebirge stand. Und die war so hoch, dass es nicht mal Jochen Danneberg hinübergeschafft hätte. Und der war ein richtig guter Skispringer. Ja gut, der durfte auf der anderen Seite der Mauer springen aber nie hinüber.
Die anderen Fehler sind etwas schwieriger zu finden. Natürlich sind wir Ski gefahren, haben uns Schanzen gebaut und haben Lankower-Berge-Skisprungrekorde aufgestellt. Von 6 bis 8 Metern haben wir damals gesprochen. Aber was wussten wir schon, wie lang so ein Meter war. Wir sind auch die Todesbahn mutig hinuntergerodelt. Nun ja, Todesbahn. Gerade mal einen toten Schlitten hatten wir zu beklagen, zu Tode geritten von einem dicken Jungen.
Der Fehler liegt im Detail. Mein Erinnerungen sind ein Flickenteppich. Ich sehe mich immer nur die Berge hinunterfahren und springen. Ich sehe mich nie mit den Brettern auf der Schulter oder dem Schlitten im Schlepp die Berge wieder hinaufstapfen. Nicht mal die Berge sind mehr Berge. Wenn ich mich heute am Lankower See umschaue, sehe ich bestenfalls Hügel.
Eine wahnsinnige Erosion. In meinem Kopf.
Wahrscheinlich war es damals wie heute. Der norddeutsche Winter: Eine graugemalte Matschlandschaft. Nur wen interessiert die Wahrheit, wenn das Märchen viel schöner ist.
Ich gucke in die Trübnis vor dem Fenster und freue mich auf den Sommer. Vielleicht haben wir ja Glück und er wird wie die Sommer meiner Kindheit. Acht lange Ferienwochen purer Sonnenschein.