Leben mit Jacke
Kleidungsstücke, die man ein Jahr lang nicht getragen hat, kann man getrost aussortieren. In meinem Schrank findet sich eine Jacke, die ich seit mindestens 20 Jahren nicht mehr getragen habe und die ich trotzdem nicht aussortieren werde. Niemals! Zu wertvoll ist dieses Stück.
Diese Jacke habe und werde ich nie vergessen, ich habe sie nur aus den Augen verloren, bis meine kleine Prinzessin plötzlich, in dieser Jacke versunken, vor mir stand. Sie hatte die Jacke ausgegraben aus der Tiefe eines Schrankes. Wie selbstverständlich hatte sie sie übergezogen und mir stolz präsentiert. Mein alte, nein, ihre neue Jacke. Ein Jeansjacke von Wrangler, 30 Jahre alt, vom dunklen Blau nur noch eine Ahnung aber ansonsten noch ganz gut erhalten.
„Nein!“, sage ich.
Nachdem die Jungs aus dem Hause waren und nur noch Mädchen übrig, war ich mir sicher, dass ich in Zukunft meine Sachen für mich behalten darf. Weil Jungssachen nichts für Mädchen sind und außerdem viel zu groß. Dachte ich. Nun weiß ich, dass Sachen durchaus Unisex sein können und es viel zu groß nicht mehr gibt, sondern Oversize heißt. Und dass man das heute so trägt.
Aber nicht meine Jacke!
Gut 30 Jahre ist es her, als die Jacke zu mir kam. Damals war die Mauer noch nicht umgefallen und das Land um mich herum gehorchte auf die drei Buchstaben DDR. Für Mark der DDR konnte man sich Brötchen kaufen und Milch. Und wer Westgeld hatte, konnte sich im Intershop mit anderen Waren des unbedingten Bedarfs versorgen. Zum Beispiel mit anständigen Jeans.
Ich konnte das nicht. Ich hatte kein Westgeld. Das war ziemlich blöd für mich. Wie blöd, können nur die Menschen ermessen, die wie ich, hinter der Mauer ohne Westgeld saßen.
Aber ich hatte Freunde. Und was für welche. Keiner von ihnen hatte viel Westgeld. Und trotzdem haben sie alle zusammengelegt und mir das Geschenk meines Lebens gemacht.
Diese Jeansjacke von Wrangler.
Es war eine tolle Jacke, aber es war gar nicht ihr Wert, der mir beim Auspacken das Pipi in die Augen getrieben hat. Es war der Umstand, dass ich meinen Freunden dieses Geschenk wert war.
Die Jeansjacke hat mich jahrelang als zweite Haut begleitet. Manchmal habe ich sogar darin geschlafen. Allerdings ohne Absicht. Ich hatte dann auch immer Kopfschmerzen danach.
Die letzten beiden Jahrzehnte hat die Jacke weit hinten in Schränken gewohnt. Hat jede Razzia, jeden Umzug überstanden. Sie war aus den Augen aber nie aus dem Sinn. Sie war, nein, sie ist heilig. Und nun steht diese Prinzessin in meinem Heiligtum vor mir. Eigentlich finde ich es gut, wenn sie die Jacke neu belebt. Aber wenn sie die verliert, verbummelt, vermölt? Nicht auszudenken.
Ausziehen!
Ich ziehe mir die Jacke über. Ich passe tatsächlich noch hinein. Sogar zugeknöpft bekomme ich die Jacke noch. Atmen fällt ein bisschen schwer jetzt. Ich gucke in den Spiegel. Ich sehe aus, wie eine Presswurst.