Roland Regge-Schulz

Vierhundert Meter

Es gibt Momente, da kann man gleichzeitig jubeln und weinen. Es gibt eine ganz einfache Möglichkeit, wie man sich ganz schnell ganz alt fühlen kann. Sport.

Mein Freund Tonio war schon immer sehr sportlich. Als wir noch jung waren und gar nicht wussten, wohin mit unserer Kraft, haben wir uns so manches Rennen geliefert. In der Regel lief er vorweg und ich hinterher. Ich war gar nicht so langsam aber er war schneller. Und wenn wir gemeinsam liefen, in einer Staffel zum Beispiel, haben wir sogar richtige Medaillen gewonnen. Gern verweise ich in diesem Zusammenhang auf eine goldene, die wir uns nach hartem Rennen im Rostocker Ostseestadion erliefen.

Dann wurden andere Sachen im Leben wichtiger. Man richtet sich ein im Leben, mit Frau und Kindern, Beruf und Bauch. Sport war nur noch Nebensache. Beim Fußball spielt man mit 35 bei den alten Herren. In der Leichtathletik startet man bei den Senioren-Meisterschaften.

Irgendwann bekam dann mein Freund Tonio die zweite Luft für die erste Lust. Er zog sich wieder Spikes an die Füße und begann zu trainieren. Noch mal Spaß haben, wollte er, auf der Tartanbahn. Und weil er den hatte und er immer noch ziemlich schnell unterwegs war, setzte er sich ein Ziel, auf das es sich hinzutrainieren lohnte. Er wollte Weltmeister werden. Über die Stadionrunde. 400 Meter. Zu Fuß!

Und so saß ich dann in Frankreich, in Lyon, in einem kleinen feinen Stadion und wollte sehen, ob er denn Weltmeister wird, der Tonio.

Ich saß dort auf der Tribüne und habe als erstes das unglaublichste, das faszinierendste, das ergreifendste Rennen meines Lebens gesehen. Aufgerufen wurde das Finale über 400 Meter der Männer. Ü90! Drei alte Herren waren extra angereist aus Portugal, Australien und Brasilien. Und sie liefen die 400 Meter komplett durch. Das Stadion bebte, klatschte tobte. Auf der Zielgerade waren sie gleich auf, lieferten sich ein packendes Finale. Fünf Meter vor dem Ende stürzte der Brasilianer. Das Stadion hielt die Luft an. Er rappelte sich auf, lief tatsächlich noch die letzten Meter ins Ziel. Stehende Ovationen. Tränenfeuchte Augen. Es war unglaublich. Es waren zwei der ergreifendsten Minuten überhaupt. Und ich habe gedacht, wenn ich mal über 90 bin, werde ich wohl froh sein, wenn ich überhaupt noch meinem Pfleger den Weg ins Stadion beschreiben kann.

Ein paar Rennen später, ist mein Freund Tonio dann tatsächlich Weltmeister geworden. Mit einer Zeit, die ich nicht einmal damals, als ich noch ganz jung und leicht und schnell war, gelaufen bin.
Ich habe fast einen Herzkasper bekommen, so aufgeregt war ich. Ich wäre ja gerne ein Stück mitgelaufen, um ihm unterwegs die Wasserflasche zu reichen. Aber selbst wenn ich gedurft hätte, ich hätte keine zehn Meter mithalten können. Es war so deprimierend und so wunderbar zugleich.

Auf ewig werde ich Tonio dankbar sein. Ohne ihn hätte ich niemals das Rennen der alten Herren gesehen. Mit ihm bin ich Weltmeister geworden. Irgendwie.

Ich werde wieder Sport treiben. Bestimmt. Ab sofort. Jawohl. Und ich fange schon mal an, darüber zu schreiben...