Der längste Halt der Stadt

  • Sylvia Kuska
Dienstagvormittag. Eine Straßenbahn steht am Marienplatz. Die Türen gehen auf und zu. Mehr passierte nicht. Von acht bis zwölf. Warnstreik beim Nahverkehr. Das kam selbst für den Bahnfahrer überraschend.
27.01.2015
Sylvia Kuska

Nächster Halt: Marienplatz. Die Zwei in Richtung Hegelstraße stoppt wie jeden Morgen kurz vor acht vor H&M. Glück hat, wer jetzt sowieso aussteigen muss. Pech, wer nicht. Für vier Stunden ist hier Endstation.

Gut hundert Meter vor der Bahn, in der Goethestraße, steht die Feuerwehr. An einem der leerstehenden Haus fällt Putz von der Wand. Es muss gesichert werden.

Fahrgäste kommen zum Fahrer, fragen, ob das jetzt schon der Streik sei. Streik? Ja, von acht an werde doch gestreikt, hätten sie im Internet gelesen. Ein Anruf in der Leitstelle. Tatsächlich, der Nahverkehr streikt. „Wir haben uns erst heute Morgen für den Warnstreik entschieden“, sagt Verdi-Streikführerin Ute Evers. Die Gewerkschaft setzt den ersten Anruf in der Telefonkette ab. Dann klingelt sich die Nachricht durch die Belegschaft. Bei Straßenbahn Nummer 2 am Marienplatz kommt sie nicht an. 

Und nun? Nun weht ein Flatterband an der bröckelnden Fassade in der Goethestraße. Nun bleibt die Bahn stehen, auch als die Feuerwehr längst abgerückt ist. Und auch, wenn die Gewerkschaft einen anderen Plan hatte.

Es ist ein einsamer Streik für den Fahrer. Keine Streikweste. Kein Plakat. Keine Mitstreiter. Die haben sich ein paar hundert Meter weiter die Wismarsche Straße hinauf versammelt, am Depot. Oder stehen an den Endhaltestellen und Warteschleifen. Das war der Plan: Ab Acht trudeln alle an diesen Punkten ein und bleiben, bis es zwölf ist. Hat ja keiner mit der Feuerwehr gerechnet.

Auf und ab laufen – viel mehr kann der Fahrer von Nummer 2 in den nächsten Stunden nicht tun. Zwischendurch Smalltalk mit Passanten: Wann geht’s weiter? In zweieinhalb Stunden. Wieso wurden die Fahrgäste vorher nicht informiert? Achselzucken. Verdi-Bezirksgeschäftsführerin Evers würde sagen: „Weil Warnstreiks immer spontan sind.“ Und ergänzen, dass deshalb auch erst um acht begonnen wurde. Damit nicht betroffen sei, wer zur Schule und Arbeit muss.

Der Dienstag ist nicht zufällig für den Streik gewählt. Die Gewerkschaft und der Arbeitgeber verhandeln seit mehreren Wochen miteinander. Über Geld, Urlaub, Altersversorgung, vermögenswirksame Leistungen. Wie üblich prallen zwei Welten aufeinander. Eine Forderung der Arbeitnehmerseite: 165 Euro mehr im Monat und eine jährliche Einmalzahlung von 500 Euro. Das Angebot der Arbeitgeber: „Einmalig 300 Euro für 2015 und 300 Euro für 2016 unter Beibehaltung des aktuellen Haustarifvertrags“, sagt Ute Evers. Das sei nicht akzeptabel. Deshalb der Streik zwei Tage vor der nächsten Verhandlungsrunde. Fahrer, Werkstattmitarbeiter und ein Teil der Verwaltung machten mit. Laut Verdi rund 100 Frauen und Männer aus der laufenden Schicht.

Am Donnerstag wird verhandelt. Und morgen noch mal gestreikt? Ein klares Ja oder Nein vermeidet Ute Evers. Sie sagt: „Am Donnerstag wird verhandelt.“

Dienstagmittag, kurz vor eins. Die morgendliche Leere am Marienplatz ist der üblichen Mittagshektik gewichen. Busse und Bahnen kommen im Minutentakt. Auch Bahn Nummer zwei ist wieder auf Kurs.