Bei Wernicke ist alles Anders

  • Roland Regge-Schulz
Wernicke kennt jeder, der schon mal auf Deutschlands Autobahnen unterwegs war. Metergroß steht der Name auf den Lastwagen. Thomas Anders kennt auch jeder. Er war die andere Hälfte von Dieter Bohlen. Ende Mai werden sich beide in Schwerin kennenlernen. 30 Jahre Modern Talking treffen auf 25 Jahre Spedition. Unsere Wirtschafts-Geschichte des Jahres.
28.12.2015
Roland Regge-Schulz

Dirk Wernicke ist kein Lautsprecher. Er lächelt. Ein ruhiges Lächeln. Ausgeglichen wirkt er. Er spricht leise. Und wenn er redet, muss man genau hinhören - es lohnt sich. Wernicke hat etwas zu erzählen.

Im April ist die Wernicke-Spedition 25 Jahre alt geworden. Für andere ein Grund auf ihr Lebenswerk zurückzublicken, für Dirk Wernicke nur eine Zwischenstation. Zum Jubiläum ist er gerade mal 44 Jahre alt.

19 Jahre alt war er, als er im April 1990 beim Rat der Stadt Schwerin den Gewerbeschein als privater Fuhrunternehmer beantragte. 30 Mark hat das damals gekostet - und 7000 Mark zurückgebracht.

Dirk Wernicke war gut in der Schule, sehr gut. Aber Spaß hat sie ihm nicht gemacht. Arzt hätte er werden sollen, in bester Familientradition. Doch für ihn war klar, nach zehn Klassen ist Schluss, Einsen hin oder her. Bei der Baustoffversorgung in Schwerin ist er nach der Schule in die Lehre gegangen und dann fiel die Mauer.

Es waren verrückte Zeiten, damals.

Schon am ersten Tag nach dem Mauerfall hat Wernicke im Westen nach dem Rechten geguckt. Gleich am Wochenende danach war er bei Verwandten zu Besuch, in Ahrensburg bei Hamburg. Einen alten Mazda hat er von dort mit nach Hause gebracht. Eigentlich sollte das Auto auf den Schrottplatz. Dirk Wernicke hat ihm ein neues Leben geschenkt - und ohne es damals zu wissen, sich auch.

Als der alte Mazda bei der Baustoffversorgung auf den Parkplatz rollte, sprang der Chef aus dem Anzug. Ein Produkt des Klassenfeindes hatte dort nichts zu suchen. Wernicke fuhr den Mazda vom Hof und sich als Angestellten gleich mit.

So ein Auto war eine feine Sache, blöd nur, dass die halbtote DDR immer noch 7000 Mark Einfuhrzoll für den Mazda verlangte. Das Geld musste dringend verdient werden. Im Dezember, als die Mauer auch in die andere Richtung fiel, als die Westdeutschen zu Weihnachten 1989 endlich auch einfach so in die DDR reisen durften und die Straßen dem plötzlichen Verkehr nicht gewachsen waren und die Autos sich im Stau anstellen mussten, stellte Wernicke sich auf einen Parkplatz an einer Einfallstraße im Nordwesten Schwerins, kurz vor Friedrichsthal, und verkaufte Würstchen und Kaffee - für eine DDR-Mark. Viele gaben Westmark. Bei den damaligen Umtauschkursen kam das Geld für den Einfuhrzoll bald zusammen.

Der Mazda fuhr jetzt nebenbei für einen Grossisten Bildzeitungen durch Schwerin. Dirk Wernicke hatte einen Zettel in einem kleinen Ladenlokal in der Schweriner Apothekerstraße gesehen. Fahrer mit eigenem PKW gesucht. Er hatte einen gefunden.

Ein paar Monate später, im März 1990, als endlich alles möglich war in der DDR, hat Dirk Wernicke dann beim Rat der Stadt Schwerin ein Gewerbe beantragt. Ab 1. April 1990 wurde er privater Fuhrunternehmer und mit 19 Jahren einer der jüngsten Unternehmer der Stadt. Sein Kapital, ein alter Mazda 626 – und 7000 DDR-Mark. Weil sein Fahrer jetzt ein Gewerbetreibender war, gab es für den Mazda den Einfuhrzoll zurück.

Bald gesellte sich ein Transporter, ein alter Ford-Transit, dazu. Und Arbeitszeiten jenseits von Gut und Böse. Diese Zeit hat mich Jahre meines Lebens gekostet, sagt Dirk Wernicke heute. Nachts um 2 Uhr ging es los. Erst Zeitungen fahren, dann Leute nach Hamburg, dann Transporte für die Baustoffversorgung. Den alten Chef dort gab es nicht mehr, jetzt durften auch vom Klassenfeind gebaute Autos auf den Hof. Gegen 18 Uhr war Feierabend. Und das alles sechs Tage die Woche.

Dirk Wernicke strengte sich an und hatte Erfolg. Eine kleine Transporterflotte wuchs heran.
1993 kamen die ersten 3 Lkw dazu. Heute fahren 46 Fahrer 40 Trucks mit dem markanten Schriftzug durch Deutschland. Zumeist fahren sie Waren für Großkunden von den Produktionsstätten in deren Verteilungszentren.

In den Hallen der Spedition im Schweriner Süden werden Waren zwischengelagert, warten Säcke mit Sojabohnen auf die Verarbeitung in der benachbarten Sojaland GmbH und Paletten mit Sojamilch von dort auf den Versand. Die Buchstaben auf den Kartons verraten ihr Ziel. Bis nach Dubai gehen sie auf die Reise. In einem anderen Trakt packen Männer und Frauen von den Dreescher Werkstätten die gewünschte Produktmischung für die großen Discounter. Vanille, Schoko, Frucht.

Insgesamt 58 Leute beschäftigt Dirk Wernicke heute, inklusive Chef. Er arbeitet voll mit, zählt sich dazu. Er hat die Übersicht. Ein Blick auf die Landkarte auf seinem Bildschirm verrät ihm, wo seine Autos gerade unterwegs sind. Blaue, grüne und rote Kästchen wandern über die Straßen. Die grünen fahren, die blauen stehen - zum Laden ist es gut, im Stau schlecht.
Aber am Wochenende sollen alle Kästchen blau sein. Die Trucks und deren Fahrer zu Hause. Immer. Familienfreundlicher geht ein Truckerleben kaum.

Im Jahr 2000, als die Spedition Wernicke zehn Jahre alt wurde, verdiente Modern Talking gerade mit aufgepeppter alter Musik noch mal richtig neues Geld. Über 60 Millionen Platten wurden in den Jahren des Comebacks verkauft.

Dirk Wernicke war damals nicht einmal 30 Jahre alt. Und er mochte die Musik von Modern Talking. C.C. Catch sang auf der gleichen Wellenlänge und deren Auftritt konnte und wollte er sich zum Firmenjubiläum leisten. Spaß hat es gemacht. Und dieser Spaß war ihm wohl auch anzumerken. Gleich am Montag danach rief einer der mitgereisten Musiker bei ihm an, ob er denn nicht Lust hätte, sich mehr mit Musik zu beschäftigen.

Wernicke hatte Lust. Und so baute er in Hamburg ein Tonstudio mit auf. Nebenbei.
Montag bis Freitag kümmerte er sich um seine Spedition und am Wochenende wurde Musik produziert. Wernicke traf Dieter Bohlen, lernte die Szene kennen, und mit „Out of Order“ von Daniel Hall schaffte es ein Song aus dem Tonstudio sogar bis in die Charts. Nicht bis ganz oben, aber immerhin.

Das Privatleben blieb auf der Strecke.  Es war zu viel.

Nach sechs Jahren wurde das Tonstudio geschlossen. Die Liebe zur Musik aber blieb und die Kontakte auch. Bis heute.

Den 25. Firmengeburtstag will Dirk Wernicke wieder größer feiern. Thomas Anders und die Modern Talking Band hat er sich und seinen Gästen eingeladen. Einfach war es nicht. 30 Jahre nach der Gründung von Modern Talking ist Thomas Anders immer noch ein Star, füllt in einigen Ländern Europas die Stadien. Die alten Kontakte aus der Tonstudiozeit aber halfen.
Am 30. Mai singt Thomas Anders in Schwerin, für Dirk Wernicke und seine Gäste, für Mitarbeiter, treue Kunden und Geschäftspartner.

Als ein großer Dank, wie es Dirk Wernicke sagt, nach 9.058.211 Telefonaten, 75.669 abgefahrenen Reifen, 234 zerkauten Bleistiften, 601 schlaflosen Nächten und 289 gefahrenen Lkw. Kurz: Nach 25 Jahren Wernicke-Spedition.

Am 30. Mai wird es bei Wernicke laut. Zur Jubiläumsfeier ist alles Anders.