
Ein Haus muss zum Friseur
Manche Dinge existieren so selbstverständlich, dass man sie gar nicht mehr wahrnimmt. Haus Nummer 35 in der Puschkinstraße, zum Beispiel. Einheimische huschen an ihm vorbei. Touristen wenden ihren Blick lieber dem schmucken Fachwerkhaus Wöhler gleich gegenüber zu. Blasse Buchstaben an der Fassade am Fachwerk zeugen von besseren, längst vergangenen Zeiten für Haus Nummer 35. Spezialgeschäft für Herren- und Damenstiefel, lässt sich gerade so noch entziffern. Und Kaffeehaus.
Die Schaufenster sind verrammelt, die Abdeckungen mit Graffiti beschmiert. Die Fenster im Obergeschoss sind erstaunlicherweise noch heil. Altersmüde lehnt das Gemäuer links am Steakhouse. Da, wo der Fußweg besonders eng ist. Rechts wuchert Gestrüpp wie ein Seitenscheitel vom Dach. Fast hat es den Boden erreicht. Der Verfall – seit Jahren wird er nicht aufgehalten.
Nun hat er offenbar eine kritische Grenze erreicht, muss alles ganz schnell gehen. Die Standsicherheit ist gefährdet, teilt die Stadt am späten Donnerstagnachmittag mit. Freitagmorgen wird die Straße davor voll gesperrt. Autofahrer sind genervt, weil die nächste Straße in der Schelfstadt dicht ist. Wenn auch nur für einen Tag.
Was genau gefährdet die Standsicherheit? Weshalb so plötzlich? Wie ist das aufgefallen? Warum hat man nicht gleich am Donnerstag den Bereich abgesperrt? Wem gehört das Haus überhaupt? Und wie geht es jetzt weiter? Offenbar zu viele Fragen für einen kurzen Verwaltungsfreitag. Antworten darauf bleiben jedenfalls aus.
Stefan von Wiczk-Borzyskowski verrichtet unterdessen seine Arbeit. Eine Hebebühne trägt ihn bis zum Dach. Dann geht es dem Gestrüpp an den Kragen. An einem Tag ist das nicht zu schaffen. Die Recyclingfirma Alba braucht mindestens bis Donnerstag. Erst dann, wenn der Blick auf das Gebälk frei ist, wird sich herausstellen, ob das alte Haus, von dem Teile im hinteren Bereich bereits eingestürzt sein sollen, überhaupt noch gerettet werden kann.