
Rückblick, Teil 7: Überleben auf der Baustelle
Ihr Laden liegt in der Wittenburger Straße, einige Meter stadteinwärts hinter dem Obotritenring. Das ist zentral. Und doch am Ende der Welt, seit die Dauerbaustelle den direkten Weg zu den Händlern versperrt. Umsätze schwinden. Existenzsorgen steigen.
Das Ende der Welt beginnt in Sichtweite zu den rot-weißen Absperrungen. Bis zu ihnen verirrt sich nur, wer muss. Und wer weiß, dass es an ihnen trotzdem noch vorbei geht. Mit dem Auto an manchen Tagen halb über den Fußweg bis zum Penny-Parkplatz. Zu Fuß vorbei an Baken, Sandbergen und Steinhaufen zum Imbissladen. Friseur, Zeitungs- und Tabakgeschäft. Bäcker. Blumenladen. Hörakustiker. Im Erdgeschoss Geschäfte, obendrüber Wohnungen. Das hat Tradition in der langen Verbindungsstraße zur Innenstadt.
Wie lange es noch Tradition bleibt? Schulterzucken. Beim Dönerverkäufer. Bei der Blumenhändlerin. Im Tabakladen. Stellvertretend für all jene, die hier von Laufkundschaft leben. Im Frühjahr rückten die Bagger an. Seitdem bleiben Kunden weg. Eigene Schilder, dass die Geschäfte geöffnet sind, hätten die Händler nicht aufstellen dürfen. Das sei gegen die Vorschrift.
Bis 18 Uhr zu öffnen, lohnt sich für Jana Meißner-Tismer nicht mehr. Jetzt schließt sie ihren Blumenladen zum ersten Mal in zwölf Jahren schon um fünf. Dann liefert sie Sträuße quer durch die Stadt aus, erspart ihren Kunden damit lästige Wege über die Baustelle. Früher war ihr Laden in der Fritz-Reuter-Straße. Als dort gebaut wurde, ist sie in die Wittenburger gezogen. Diesmal will sie nicht umziehen. Diesmal will sie bleiben. Trotz Baustelle.
Schräg gegenüber vom „Blumenmarkt“ verkauft Naif Salman zusammen mit seinem Sohn seit zwölf Jahren Döner. Die Frage, wie die Geschäfte zwischen Lärm, Baudreck und Straßensperre laufen, erübrigt sich. Die großen Salatbehälter sind an diesem Mittag zu voll für einen florierenden Umsatz. Bevor die Straße dicht war, habe er an einem Tag so viel Fleisch verbraucht wie heute an drei Tagen. Inzwischen bestellt er von allem weniger. Häufig bleibt es trotzdem zu viel.
Auf der anderen Straßenseite verkauft Ralf Zielke Zigaretten, Zeitungen und Lottoscheine. Zehn Jahre ist er hier im Geschäft. Die Hälfte des Umsatzes sei ihm nun weggebrochen, sagt er. Zu viel, um seine beiden Mitarbeiter weiter zu beschäftigen. Sie erhalten vorerst Geld vom Staat. Mit Rabatten werben kann er nicht. Zigaretten, Zeitungen und Lottoscheine sind preisgebunden. Die Situation sei existenzgefährdend. Wie lange er noch durchhalten kann? „Ich weiß es nicht.“
Dieses Risiko tragen die Gewerbetreibenden allein. Pauschale Entschädigungen für entgangene Umsätze gibt es nicht. Erst müssen so genannte Opfergrenzen überschritten werden. Wo diese liegen, ist nur vage definiert und nicht an einer Geldsumme festzumachen. Im Streitfall entscheiden Gerichte.
Jana Meißner-Tismer ist jeden Tag aufs neue auf eine Überraschung gefasst. Neulich liefen Ratten über den Hof. „Die offenen Kanäle haben sie vermutlich aufgescheucht.“ Unterm Dach war auch schon eine. Bis der Kammerjäger kam.
Vor ein paar Tagen sei die Baustelle weitergerückt. Monate früher als geplant über den Discounter in der Straße hinaus. „Der Hauptverteiler für die Leitungen lag ein paar Häuser weiter unten als angenommen.“ Von jetzt auf gleich seien Einfahrten blockiert, Parkplätze auf Hinterhöfen unerreichbar gewesen, sagt Jana Meißner-Tismer. „Informiert hat uns darüber niemand.“ Das stört die Geschäftsfrau am meisten. „Wir sind nicht nur abgeschottet vom Kundenverkehr. Wir sind es auch von Informationen.“ Einen Ansprechpartner bei der Stadt, der versuche, mit den Gewerbetreibenden an einem Strang zu ziehen, gäbe es nicht. Dafür seien die Arbeiter vor Ort umso hilfsbereiter.
Lärm. Dreck. Straßensperren. Umleitungen. Die ewige Suche nach einem Parkplatz. Für Anwohner ist die Baustelle in der Wittenburger Straße nervig. Für Gewerbetreibende existenzbedrohend. Für alle aber nötig. Die Straße war seit Langem ein Härtetest für Autofahrer und Anwohner. Die Leitungen darunter marode. Beides muss erneuert werden. Das stellen die wenigsten in Frage. Sorge macht Anliegern der lange Zeitraum. Bis die gesamte Straße fertig ist, werden Jahre vergehen. Ob die Geschäftstradition der Wittenburger Straße bis dahin überlebt? Darüber wollen die Blumenfrau, der Dönerverkäufer und der Tabakhändler heute lieber keine Prognose wagen.